Philosoph über die postfaktische Gesellschaft

"Lust an der Unwahrheit"

Szene aus dem Zeichentrickfilm "Pinocchio". Die Geschichte des italienischen Schriftstellers C. Collodi aus dem Jahr 1883 wurde von den Disney-Studios als Zeichentrickfilm umgesetzt und begeistert seit nun mehr als 70 Jahren kleine wie große Kinder.
Zeichentrickfilmfigur Pinocchio: Bei jeder Lüge wurde die Nase ein Stück länger. So einfach lassen sich falsche oder manipulierte Meldungen leider nicht erkennen. © picture-alliance / dpa/ dpa-Film
Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.11.2016
Ob Brexit oder US-Wahlkampf: Noch nie haben Lügen und Halbwahrheiten so stark die Politik bestimmt. Doch warum sind darüber nicht alle empört? Der riesige Widerhall von Fiktionen in den sozialen Medien mache offensichtlich Spaß, meint der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann.
Schon immer haben Politiker Fakten auf ihre eigene Weise interpretiert. Doch der Wiener Professor erkennt eine grundsätzlich neue Entwicklung: "Früher hat man sich vielleicht bemüßigt gefühlt, wenn man einer Unwahrheit überführt worden ist, es zähneknirschend zuzugestehen oder einen Irrtum einzugestehen." Heute allerdings gebe es einen anderen Umgang mit der Unwahrheit:
"Wir entwicklen offensichtlich (…) so etwas wie eine Lust an der Unwahrheit. Es macht offensichtlich auch Spaß, mit fingierten Meldungen, mit fingierten Zahlen zu kommunizieren, weil diese Fiktionen, weil diese Lügen, weil diese Halbwahrheiten, weil diese Meinungen (…) plötzlich eine Resonanz haben in den sozialen Medien, in der Öffentlichkeit, die vorher undenkbar gewesen wäre."
Für das Misstrauen vieler Menschen gegenüber offiziellen Zahlen - wie etwa der Arbeitslosenquote - hat Liessmann auch eine Erklärung: Es gebe heutzutage sehr viele Möglichkeiten, sich zu informieren: soziale Medien, das Internet, Zeitungen. "Da kann schon wirklich das Gefühl entstehen: Hoppla, da gibt es sehr viele Deutungen der Wirklichkeit - was stimmt jetzt tatsächlich?"

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Wenn mir jemand sagt, in Teilen von Sachsen-Anhalt läge die Arbeitslosenquote bei über 40 Prozent, das würde doch so manches erklären, dann kann ich recherchieren und ihm dann antworten: Die Arbeitslosenquote in diesem Bundesland beträgt genau 8,6 Prozent, und selbst im Landkreis Mansfeld-Südharz, wo es die meisten Arbeitslosen gibt, liegt sie bei 11,2 Prozent. Was sagt dann wohl mein Gesprächspartner? Nun ja, er sagt, das wäre gar nicht wahr, das wären die offiziell geschönten Zahlen und die müsse man immer ungefähr bei vier nehmen und dann ist man ja wieder bei seinen Werten.
Das ist nicht erfunden, diesen Dialog habe ich mit einem mir bekannten und relativ intelligenten und gebildeten Menschen tatsächlich vor wenigen Tagen so geführt. Und der jetzt folgende Dialog ist auch nicht erfunden, den führen wir live mit Konrad Paul Liessmann, er ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und Autor zahlreicher Bücher, darunter "Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung". Ich finde, das sollte man hier mal erwähnen. Schönen guten Morgen, Professor Liessmann!
Konrad Paul Liessmann: Guten Morgen!
Kassel: Passiert Ihnen das gelegentlich auch, dass Sie einer Falschbehauptung mit Tatsachen, für die Sie auch Quellen haben, begegnen, und Sie können damit niemanden mehr überzeugen?
Liessmann: Natürlich kommt das vor und es ist auch gar nicht so einfach wahrscheinlich, wirklich solche Fragen auf verlässliche Fakten zurückzuführen. Bei Ihrem Beispiel, wenn ich dabei bleiben darf, ist es natürlich klar, dass, wenn jemand behauptet, alle offiziellen Zahlen muss man mit vier multiplizieren und dann kommt man auf die Wahrheit, ist das natürlich ein Unsinn. Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass, wenn man sich mit Ökonomie, mit Arbeitslosenstatistiken beschäftigt, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Rechnungsmethoden gibt, wie Arbeitslosenquoten erhoben werden.
Ich weiß das aus Österreich, wo immer ein großer Streitfall ist: Wie werden Menschen bewertet, die zwar keine Arbeit haben, aber zum Beispiel in einer Ausbildung sind, die sich weiterbilden, die in bestimmten Formen von Karenzen sind, wo man nicht genau weiß, Studium? Ist es keines? die ein Praktikum machen … Die sind nicht beschäftigungslos, aber sie kriegen kein Geld, ja? Das heißt, das sind lauter wirklich interessante Fragen und natürlich muss man bei Statistiken aller Art ein bisschen vorsichtig sein.
Gleichzeitig aber kann man natürlich auch, wenn man bestimmte Kenntnis hat, was Statistiken aussagen, wie sie zustande kommen, was Korrelationen bedeuten, also mal in diesem Fall, ein bisschen gebildet ist, natürlich auch Statistiken korrekter einschätzen. Und wie schwierig das ist – und ich verstehe natürlich bis zu einem gewissen Grad auch die Unsicherheit von Menschen angesichts solcher Fakten, die uns begegnen –, wie schwierig das ist, merkt man daran, wenn man Experten befragt. Fragen Sie mal Wirtschaftsexperten von der einen und von der anderen Partei, wie sie die Arbeitslosenzahlen festlegen würden. Sie würden nicht auf dieselben Daten kommen.

Das Bedürfnis, unsere Informationen bestätigt zu fühlen

Kassel: Ja, jetzt haben Sie es schon sehr kompliziert erklärt und ich tu noch einen drauf: Die Quote wird auch von der Europäischen Union zum Beispiel anders berechnet als von der Bundesagentur für Arbeit. Aber ist das tatsächlich der Grund für diese Entwicklung hin zu einer möglicherweise tatsächlich postfaktischen Gesellschaft, dass es einfach zu kompliziert geworden ist und man nicht sagen kann, etwas ist so und so?
Liessmann: Es ist nicht der Grund und auch nicht der einzige Grund. Aber es spielt eine Rolle, und zwar interessanterweise gerade deshalb, weil wir anders als früher mehr Möglichkeiten haben, uns zu informieren. Das heißt also, Menschen hören die offiziellen Verlautbarungen etwa der Bundesregierung, sie lesen eine Zeitung, wenn sie das noch tun, sie sind in einer Facebook-Gruppe, wo ganz andere Zahlen kursieren, sie können im Internet recherchieren, sie geben bei Google irgendetwas ein und da kommen unterschiedlichste Texte, Blogs, Polemiken, Statistiken, Wikipedia-Einträge. Und da kann schon wirklich das Gefühl entstehen: Hoppla, da gibt es ja derart viele Deutungen der Wirklichkeit, was stimmt jetzt tatsächlich?
Kassel: Was natürlich idealerweise zur Folge haben müsste bei intelligenten Menschen, das berühmte "Ich weiß, dass ich nichts weiß", müsste man ja eigentlich dann sagen: Na ja, ich ehrlich gesagt habe den Eindruck, das kann man gar nicht so genau sagen. Warum sagen dann die meisten Leute, ich nehme die Zahl, die mir am besten in mein Weltbild passt?
Liessmann: Weil wir einerseits natürlich das Bedürfnis haben, unsere Informationen bestätigt zu fühlen. Das ist eins der größten Probleme. Gerade sozusagen was in den sozialen Medien, was wir Filterblase nennen, ja, dass Menschen sich gern in Milieus bewegen, auch jetzt was Informationen betrifft, was Meinungen betrifft, wo man bestätigt wird. Das ist ja nicht so einfach.
Meine Philosophie hat immer diesen großen Anspruch gehabt, aber deshalb weiß ich auch, wie schwierig das ist. Es ist ja nicht so einfach, sich mehrmals am Tag selbst infrage zu stellen, weil man offensichtlich eine Meinung hat oder eine Vorstellung hat oder etwas für richtig hält, für faktisch richtig hält, was sich auch als nicht ganz so richtig, womöglich auch als unwahr erweisen kann. Das ist der eine Grund, ja? Der andere Grund ist natürlich, dass man jetzt Faktum … Das Wort Faktum heißt eigentlich das Gemachte. Es ist nicht das Vorgefundene, nicht das, was ist, sondern das, was gemacht wird.
Im Faktum steckt schon so ein gewisses konstruktives Element, könnte man sagen. Und Fakten allein, auch wenn sie jetzt wirklich offen auf der Straße lägen – was sie selten tun, manchmal tun sie es, es gibt ja auch unwidersprechbare Fakten, Zahlen, Statistiken, Einsichten, Vorkommnisse, es ist geschehen –, aber das, was das Ganze dann für eine Gesellschaft, für eine Kultur interessant macht, wird ja … ist ja, wie dann darüber geredet wird, wie diese Fakten interpretiert werden. Nicht interpretierte Fakten sind bedeutungslos.

8,2 Prozent Arbeitslose: ein toller Wert oder eine Katastrophe?

Erst indem jemand dieses Faktum erwähnt, schon wie er es erwähnt, mit welchem Unterton in der Stimme er es erwähnt … Man kann 8,2 Prozent Arbeitslose so aussprechen, dass man sagt, na, angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse ist das ein ganz, ganz toller Wert, das ist ein Wirtschaftserfolgsmodell! Und man kann 8,2 Prozent Arbeitslose so aussprechen, dass man den Eindruck hat: Um Gottes willen, was passiert hier eigentlich, ja? Aber es bleiben dieselben 8,2 Prozent. Das heißt, man muss dann schon gar nicht das vervierfachen, es genügt sozusagen, den Ton in der Stimme zu senken. Und …
Kassel: Aber das ist ja gerade auch in der Politik, auf die ich jetzt gerne kommen möchte, nichts Neues, dass da Fakten interpretiert werden. Und schon die einfachste Methode ist, man erzählt das, was einem passt, was dann hoffentlich noch stimmt, und lässt den Rest einfach weg.
Das ist aber doch immer schon so gewesen, aber inzwischen auch in der westlichen Politik – Stichwort Brexit, Stichwort Wahlkampf in den USA – wurde konkret gelogen, also, wurden Dinge als wahr dargestellt, die es nicht sind – hier mal eine kurze Lügendefinition. Und viele Leute haben das geglaubt und schlimme Folgen hatte es nicht, beim Brexit wurde am Wahlabend noch zugegeben, dass eine bestimmte relevante Zahl nicht wahr war, und so schlimm finden das alle nicht. Ist das nicht doch eine neue Entwicklung?
Liessmann: Das ist in der Tat etwas Neues. Früher hat man sich vielleicht gemüßigt gefühlt, wenn man einer Unwahrheit überführt worden ist, das zähneknirschend zuzugestehen oder einen Irrtum einzugestehen oder augenzwinkernd zu sagen: Wusste ich ohnehin, aber es war aus strategischen Gründen nicht anders möglich. Jean-Claude Juncker hat mal gesagt am Höhepunkt der Eurokrise, der Finanzkrise, wenn es wirklich ernst wird, muss man die Menschen belügen. Das heißt also, das ist schon mal dagewesen oder das hat es immer schon gegeben. Schon Platon schriebt in seinem "Staat", es gibt so etwas wie eine strategisch plausible Lüge, einfach um den sozialen Frieden aufrechtzuhalten in der Politik.

Wir werden nicht gern belogen

Aber das, was wir heute haben, ist vielleicht ein anderer Umgang … Ich würde jetzt nicht sagen: mit Wahrheit, ja? Sondern es ist ein anderer Umgang mit Unwahrheit. Wir entwickeln offensichtlich – aber auch das steckt tief in uns, aber vor allem die modernen Medien erlauben uns da vielfältigeres Spiel als früher –, wir entwickeln auch so etwas wie eine Lust an der Unwahrheit. Es macht offensichtlich auch Spaß, mit fingierten Meldungen, mit fingierten Zahlen zu kommunizieren, weil diese Fiktionen, weil diese Lügen, weil diese Halbwahrheiten, weil diese Meinungen, die man hier verbreiten kann, plötzlich eine Resonanz haben in den sozialen Medien, in der Öffentlichkeit, die vorher undenkbar gewesen wäre.
Und natürlich ist der Mensch auch ein Wesen, Friedrich Nietzsche hat mal die These vertreten, bevor wir gelernt haben, die Wahrheit zu sagen, haben wir die Lust an der Lüge, an der Täuschung, am Schein, an der Irritation, an der Irreführung entwickelt, weil das auch überlebensstrategisch notwendig gewesen sein soll. Eine ganz interessante Konzeption, die auch erklären würde, warum viele Menschen sich gar nicht so sehr stoßen daran, wenn jemand jetzt in dem Zusammenhang der Unwahrheit überführt wird. Wir würden ganz anders darauf reagieren, wenn diese Unwahrheit uns betrifft. Denn wir freuen uns vielleicht daran, wenn es irgendjemandem gelingt, sozusagen eine Unwahrheit intelligent zu platzieren und zirkulieren zu lassen, aber wir werden natürlich nach wie vor nicht gerne belogen als Adressaten.
Kassel: Ich sage jetzt … lese mal in zwei Punkten die Wahrheit: Erstens, ich würde gerne, weil ich gerade Spaß an diesem Gespräch habe, noch wesentlich länger mit Ihnen reden, …
Liessmann: Ich auch!
Kassel: … und zweitens – danke, das glaube ich Ihnen auch! –, und zweitens, wir haben leider an dieser Stelle nicht die Zeit. Aber ich glaube, angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklung werden wir Gelegenheit, über Wahrheit und Lüge zu reden, sicherlich bald wieder haben. Ich danke Ihnen für heute!
Liessmann: Ich danke Ihnen!
Kassel: Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessman war das.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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