Philosoph Stephan Gosepath

"Demokratie ist keine Interessensvertretung"

Prof. Dr. Stefan Gosepath
Der Philosoph Stephan Gosepath © Deutschlandradio / Manfred Hilling
Stefan Gosepath im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 22.02.2017
Leben wir wirklich in einer "Rentnerdemokratie", wie es von Jüngeren beklagt wird? Der Philosoph Stefan Gosepath hält dagegen: Hinter dieser Kritik stecke ein falsches Verständnis von Demokratie. Gefragt seien jetzt Politikangebote, die zwischen den Generationen vermitteln könnten.
Korbinian Frenzel: Unser aller Lebenserwartung steigt. Im Jahr 2030 werden wir im Durchschnitt über 90 Jahre als. Das sagt eine heute erscheinende Studie des Imperial College London mit Blick auf Menschen, die in Industrieländern wie Deutschland leben. Das ist schön, aber vielleicht auch nicht nur. Wenn immer mehr alte Menschen in unserem Land leben, werden wir dann auch mental zur Rollator-Gesellschaft? Landen wir, so hat es Roman Herzog mal gesagt, in einer Rentnerdemokratie? Wir machen diese Frage zum Mehrgenerationenthema. Gleich im Interview Stefan Gosepath, Jahrgang 1959, Professor für Politische Philosophie an der FU Berlin, befragt von mir, Jahrgang 1978, und eingeleitet von Sorgenfalten auf jugendlicher Stirn. Mein Kollege Sandro Schroeder, Jahrgang 1992, meint:

Die Alten sind schuld! "Rentengeschenke" sind fester Bestandteil des Bundestagswahlkampfs. Wo, bitteschön, bleiben die Geschenke für Praktikanten, Auszubildende, Studierende, fragt Sandro Schroeder, Jahrgang 1992, – und findet, dass die Alten bei Abstimmungen zu viel Macht haben. mehr...

Sandro Schröder, 24 Jahre alt. Sorgen einer jungen Generation vor einer Rentnerdemokratie. Am Telefon ist der Philosophieprofessor Stefan Gosepath. Guten Morgen!
Stefan Gosepath: Einen wunderschönen guten Morgen!

"In der Demokratie geht es um das Gemeinwohl"

Frenzel: Ist das eine berechtigte Sorge, die Dominanz der Alten?
Gosepath: Man versteht den Punkt natürlich, aber berechtigt ist er nicht, denn es unterstellt in gewisser Weise ein häufig zu findendes Missverständnis, dass es in der Demokratie um Interessensvertretung geht. Jeder Abgeordnete, jede Person, die in der Wahlurne steht, wählt nur nach seinen oder ihren Interessen.
Aber in Wirklichkeit geht es bei der Demokratie, richtig verstanden, doch darum, dass wir gemeinsam, alle Beteiligten, darüber überlegen, was für uns alle zusammen das Beste ist, das sogenannte Gemeinwohl. Und da muss man über seine eigenen Interessen hinwegsehen und eben die Interessen der anderen berücksichtigen.
Frenzel: Sie sagen, man muss. Die Frage ist aber auch, tut man das denn, wenn man zum Beispiel politisch zur Auswahl hat, entweder eine Partei zu wählen, die, sagen wir mal, höhere Renten verspricht, oder eine andere Partei, die bessere Universitäten verspricht.
Prof. Dr. Stefan Gosepath
Prof. Dr. Stefan Gosepath© Deutschlandradio / Manfred Hilling
Gosepath: Die Parteien haben natürlich die Sorge, dass sie irgendwie versuchen, ihre Wähler mit Geschenken zu ködern. Und das ist eine berechtigte Kritik, dass wir in einer Demokratie leben, die versucht in gewisser Weise, Stimmen zu kaufen. Und das ist aber eben ein Missverständnis, und wir sollten eben alle zusammen, die wir uns jetzt zum Beispiel auch über dieses Ungleichgewicht der Generationen beschweren, darauf hinwirken, dass es jetzt nicht Sonderabgeordnete oder so etwas für Jugendliche oder für die noch nicht Geborenen gibt – das ist ja auch ein riesiges Generationenproblem, sondern wir sollten sehen, dass wir im Parlament und in der öffentlichen Diskussion über die Frage, was ein gerechter Ausgleich zwischen den Generationen ist, fair streiten.
Und hier sehen wir auch ein Spannungsverhältnis – es gibt in der Demokratie, das ist das Prinzip, dass sich alle beteiligen sollen, weil die Wahlbeteiligung ist da auch wichtig, wie auch ein Spannungsverhältnis zu dem, was das richtige Ergebnis ist. Die Mehrheit garantiert noch nicht das beste oder das richtige Ergebnis. Aber wir haben kein anderes Verfahren, um herauszukriegen, was die gerechte Lösung ist – außer in philosophischen Seminaren natürlich –, sondern politisch haben wir nur das Verfahren der Mehrheitsentscheidung. Und Mehrheiten können natürlich auch falsch liegen. Und das ist das, was uns jetzt im Brexit und bei Trump ärgert. Aber das macht die Demokratie und die Tatsache, wer da gewählt hat, noch nicht selbst zu etwas Schlechtem.

Wie sinnvoll ist ein Familienwahlrecht?

Frenzel: Wir könnten ja zum Beispiel über ein imperatives Mandat für philosophische Seminare diskutieren, aber mal im Ernst, Beispiel Großbritannien, der Brexit. Da hat man ja gesehen, die jungen Leute, die abgestimmt haben, wollten in einer ganz großen Mehrheit bleiben. Also die, die am längsten mit dieser Entscheidung leben müssen. Müssen wir nicht Wahlmechanismen finden, die dem Rechnung tragen, also auch die Frage, wie lange man mit politischen Entscheidungen noch lebt?
Gosepath: Erstens ist das natürlich praktisch sehr schwierig zu sagen, wie lange man lebt oder wie stark man davon betroffen ist. Letztendlich ist die Idee, die Sie dahinter haben, wen es mehr betrifft, der hat also einen höheren Stimmenanteil.
Frenzel: Genau. Sie haben das ja schon genannt, das Stichwort, zum Beispiel Familienwahlrecht. Dass man sagt, wer drei Kinder zu Hause hat, der kriegt vielleicht mehr als nur die eine Stimme.
Gosepath: Ja, aber man muss natürlich jetzt hier sehen, in welcher Hinsicht? Also gerade der Fall der Jugendlichen in Großbritannien, das sind ja meistens auch Leute, die in Städten gewohnt haben, die einen anderen, kosmopolitanen Lebensstil haben, die von der EU profitiert haben wirtschaftlich, die eingebunden sind in dieses globale ökonomische System und deshalb so wählen.
Das ist ja nicht die Tatsache, dass sie jugendlich sind, alleine, die sie zu dieser aus unserer Sicht jetzt richtigen Wahl animiert hat, sondern natürlich auch bestimmte ökonomische und Lebensinteressen, die eben die ältere Bevölkerung, die auf dem Land lebt, jetzt nicht so geteilt hat.
Sollen wir jetzt die Wahl, die Stimmen auch verteilen nach Land und Stadt? Das ist ja auch bei Trump-Wählern der große Unterschied. Die Städte haben alle für Hillary Clinton gewählt, die Landbevölkerung zum großen Teil, meistens auch abgehängte weiße arbeitslose Bevölkerung, dann für Trump. Das kann man natürlich demografisch nach Wahlbeteiligung auflisten. Aber es wird jetzt nicht klar, ob es daraus folgt, dass wir jetzt die Stimmen unterschiedlich verteilen sollen.

Forderung nach einer besseren Diagnose der Gesellschaft

Frenzel: Wenn ich Sie jetzt mal weiter interpretiere, dann könnte ich eigentlich zu dem Punkt kommen, dass wir da in gewisser Weise einen leicht antidemokratischen Diskurs haben. Man kann ja sagen, Sie haben die Beispiele genannt, diejenigen, die Trump gewählt haben, diejenigen, die für den Brexit gestimmt haben.
Die Alten, wenn wir zu diesem Thema zurückkommen, die sind nun mal mit ihren Interessen oder mit ihrem Abstimmungsverhalten in der Mehrheit, und gleichzeitig gibt es ja doch im Prinzip ja die Kommentierung, die immer davon ausgeht, das sind falsche Entscheidungen. Ist das vielleicht falsch, müssen wir uns davon verabschieden und sagen: Wenn demokratische Entscheidungen – wie auch immer sie zustande gekommen sind, durch welche Zusammensetzung getroffen sind, dann sind das die besten Entscheidungen, die es gibt?
Gosepath: Nein, eben gerade nicht. Die besten sind es nicht. Die Mehrheit kann falsch liegen. Und das drücken wir jetzt zum Teil durch solche Äußerungen wie die meinen auch aus. Aber was bleibt mir in einer Demokratie, wenn wir die Demokratie nach wie vor für die beste Staatsform halten? Nur mit Argumenten zu versuchen, die Mehrheit zu überzeugen, dass sie falsch gelegen hat.
Und das heißt eben, sich stärker engagieren, bessere Argumente bringen, sehen, wo die eigentlichen Problemlagen liegen. Hier wäre ja eine Diagnose, das liegt nicht wirklich zwischen alt und jung, sondern zwischen arm und reich, zwischen Integriertsein und Exkludiertsein, zwischen Mitgenommenwerden und Teilhabe an der Gesellschaft.

Ein Konzept: Jugendliche stärker integrieren, Alte nicht abhängen

Und das heißt auch, die besseren Politikangebote zu machen, um Jugendliche stärker in die Gesellschaft zu integrieren, die Alten nicht abzuhängen, den Alten den gleichen Medienzugang zu geben, die Alten beteiligt sein zu lassen, die Alten mit leben zu lassen mit Jungen, sodass sie sehen, welche Probleme ihre Enkelkinder haben. Und so, dass die Oma, um es jetzt mal platt zu sagen, doch auch für Kindergärten stimmt, weil ihre Enkelin dahin geht.
Also, wenn die Gesellschaft integrierter ist, dann sind die Problemlagen jetzt auch nicht einfach nach schwarz/weiß, jung/alt, Land/Stadt und so weiter zu teilen. Sondern man sollte eben sehen, dass man als Mitglied einer Bevölkerung alle Problemlagen in dieser Bevölkerung versteht. Und vielleicht auch so in die Gesellschaft integriert ist, dass man sie auch alle von Bekannten, Verwandten so kennt, dass man auch deren Interessen ernst nehmen kann.
Frenzel: Stefan Gosepath, Professor für Politische Philosophie an der FU Berlin. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Gosepath: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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