Philosoph des menschlichen Herzens

16.08.2012
Freunde, die über alles reden, aber nicht über sich selbst, eine Frau, die mit der vereinnahmenden Art ihres neuen Freundes nicht zurecht kommt, ein Mann, der eine Insel besucht, auf der er mit seiner jüngst verstorbenen Frau oft war: Julian Barnes erzählt über Paare und ihre Probleme mit einer großen Feinfühligkeit.
Bisweilen fragt man sich schon, wie das möglich ist: dieser Output an großartigen Geschichten. Kaum hat Julian Barnes seinen bewegenden autobiografischen Essay über den Tod - "Nichts, was man fürchten müsste" - und seinen nicht minder klugen Roman über unseren fatalen Hang, den eigenen trügerischen Erinnerungen aufzusitzen, - "Vom Ende einer Geschichte" - vorgelegt, liegt das nächste Werk vor: 14 Erzählungen.

Abermals Prosa, die zwischen Melancholie und Zynismus oszilliert, die gewitzt und weise zugleich ist. Gewiss, nicht jede einzelne dieser stories ist, für sich genommen, ein Meisterwerk. Es gibt Niveauunterschiede und vielleicht ist sogar die eine oder andere Erzählung vernachlässigenswert. Doch in der Mehrheit haben wir es hier mit der Kunst zu tun, die Barnes-Leser seit jeher schätzen.

Da sind zum Beispiel jene vier Geschichten, die sich um die Einladungen "Bei Phil und Joanna" drehen: Einige befreundete Londoner Paare treffen sich abends, essen miteinander und reden - über alles, was ihnen gerade in den Sinn kommt: Politik, öffentlichen Sex auf dem Rastplatz, Obama, die maßlos überzogenen Boni der Banker, BoJo, den Bürgermeister der Stadt, in der sie leben.

Ihr Gespräch dreht sich um die Angst vor tödlichen Krankheiten, den Klimawandel und das Kuriosum, dass das französische Wort für "Hoden" ausgerechnet weiblich ist: "valseuses" (Walzertänzerinnen). Es ist das "Talking it over"-Prinzip, das Barnes hier noch mal vorführt: Wie wir es, wenn wir uns unterhalten, immerzu schaffen, mittels Ironie und Blödeleien den wirklich heiklen Fragen auszuweichen. Der nach der Liebe etwa - ein zu schwieriger Gegenstand für die lockere, alkoholgeschwängerte Konversation am Tisch mit Freunden.

Ungleich intimer wird es in "Beziehungsmuster": Ein Mann besucht ein letztes Mal jene Insel in Schottland, auf der er so oft zusammen mit seiner jüngst verstorbenen Frau war. Er versucht, durch die Rückkehr zum Ort einstigen Glücks seine Trauer über ihren Tod zu lindern:

"Aber er konnte nicht über den Kummer gebieten. Der Kummer gebot über ihn. Und in den kommenden Monaten und Jahren würde ihm der Kummer vermutlich noch viele andere Lehren erteilen. Dies war nur die erste."

Ob er seine Geschichten nun in Gegenwart oder weit zurückliegender Vergangenheit ansiedelt (seine Erzählung "Harmonie" über den Magnetiseur Franz Anton Mesmer und seine Patientin, die Pianistin Maria Theresia von Paradis behandelt just jene Begebenheit, welche schon Alissa Walser zu einem Roman inspirierte) - stets schlägt Barnes den angemessenen Ton an.

Nahezu klassisch die Titelerzählung "Unbefugtes Betreten": Geoff - Pedant, 31, frisch getrennt - trifft Lynn. Er Lehrer, sie Bankberaterin. Beim Wandern kommt man sich näher. Bald merkt sie, wie übergriffig er sich gebärdet: Muss man, kaum, dass man sich kennen gelernt hat, wirklich schon im Juni darüber diskutieren, wo man Weihnachten zusammen feiert? Ihr Warnschuss - "Du kommst mir ins Gehege" - bleibt unverstanden. Ende der kurzen Zweisamkeit. Paare, immer wieder Paare mitsamt all ihren Problemen porträtiert Barnes mit außerordentlich feinem Gespür - und erweist sich einmal mehr als zugehörig zu den "Philosophen des menschlichen Herzens, die sich mit dem Erzählen von Geschichten befassen".

Besprochen von Knut Cordsen

Julian Barnes: "Unbefugtes Betreten"
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger und Thomas Bodmer
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012
292 Seiten, 19,99 Euro
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