Philologischer Totentanz

12.10.2009
"2666" beginnt wie ein satirisch angefütterter Gelehrtenroman: Eine Gruppe spleeniger Philologen forscht ihrem unerreichbaren Idol hinterher - dem angeblich bedeutendsten deutschen Autor der Nachkriegszeit, einem Preußen mit dem eher unpreußischen Namen Benno von Archimboldi. Man debattiert über Archimboldis Werke und hält internationale Archimboldi-Kongresse ab - ein wie von Borges erfundenes Poeten-Phantom gewinnt mythische Konturen. Zur passionierten Forschung kommen bald auch handfestere Leidenschaften innerhalb der kleinen Gelehrten-Gemeinschaft.
Als sie erfahren, dass ihr Autor in Santa Teresa gesehen worden sei, einer unwirtlichen, geschwürhaft wuchernden Wüstenmetropole an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, machen sich die Archimboldianer auf den Weg - und es verschlägt ihnen bald die Sprache in der städtischen Albtraumlandschaft aus Billigbauten, Gewerbezonen, Motels und Amüsiermeilen. Santa Teresa ist eine Globalisierungshölle des Drogen- und Menschenhandels, der Korruption und des Gewaltverbrechens.

Im zweiten Teil des Romans übernimmt der örtliche Archimboldi-Spezialist, ein vom Wahn bedrohter Philosophieprofessor namens Amalfitano, die Erzählstimme - und berichtet unter anderem davon, wie er ein Buch mit dem Titel "Geometrisches Vermächtnis" draußen auf die Wäscheleine hängt, um es auf Duchamps Spuren meteorologischen Veränderungsprozessen auszusetzen. Wie die Schriftstellersuche und der Bericht von einem Künstler, der sich auf dem Höhepunkt seines Schaffens selbst die Hand abhackt, um sie seinem letzten Meisterwerk als makabre Realie einzufügen, gehört die Beschreibung des Readymades an der Wäscheleine zum Strom der artistisch-poetologischen Reflexionen, der "2666" durchzieht und ein Gegengewicht bildet zum Übermaß mexikanischer Hardcore-Realität.

Denn im Zentrum steht eine bestialische Mord- und Vergewaltigungsserie, der ein Journalist bereits im dritten Teil des Romans gefährliche Recherchen widmet, bevor sich der vierte zum gewaltigen Requiem entwickelt. In Ciudad Juárez, dem realen Vorbild für Bolanos Santa Teresa, wurden zwischen 1993 und 2003 über vierhundert Frauen vergewaltigt und ermordet. Auf 350 Seiten schildert Bolano die Mordserie: 108 Todesarten werden im brutalen Detail rekonstruiert anhand der Obduktions- und Ermittlungsergebnisse. Kriminalisten und Detektive bekommen viel zu tun, ohne dass sie dem Morden Einhalt gebieten könnten. Dieser Teil des Romans ist ein Totentanz, wie man ihn bisher nicht gelesen hat, geschrieben in einem Stil von geradezu surrealer Sachlichkeit.

Der längste und letzte Teil des Buches schließt dann die große Klammer, indem er die Biographie Archimboldis aufrollt. Eigentlich heißt der mysteriöse Mann Hans Reiter und war in jüngeren Jahren in der Wehrmachtsuniform an vielen Fronten des Zweiten Weltkriegs unterwegs. Zum Horror von Santa Teresa kommen nun die Schrecken der europäischen Gewaltgeschichte, Nazismus, Stalinismus, Holocaust, und auch hier operiert Bolano mit stupender Detailkenntnis, bevor er seinen Reiter im kriegsmüden Europa den Ritt in die Wahrhaftigkeitszone der Literatur antreten lässt.

"2666", eines der bedeutendsten Werke des Jahrzehnts, mischt Bildungsroman, Thriller und Reportage, es verbindet apokalyptische Wucht und labyrinthische Spurensuche, historische Exaktheit und Phantasmagorie. Ein großes, imponierendes, von Christian Hansen vorzüglich übersetztes Buch über das Mörderische in der Welt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Roberto Bolano: 2666
Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Carl Hanser Verlag, München 2009
1096 Seiten, 29,90 Euro


Deutschlandradio Kultur ist Medienpartner bei www.litprom.de - der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. mit der Weltempfänger-Bestenliste