Philip Morris gegen Uruguay

Rauchverbot-Vorzeigeland vor Gericht

Eine Installation aus überdimensionalen Zigaretten steht auf einem belebten Platz.
Eine Zigaretteninstallation soll 2010 im uruguayanischen Montevideo vor den Gesundheitsgefahren des Rauchens warnen. © imago / Xinhua
Von Francisco Olaso · 30.09.2015
Der kleine südamerikanische Staat Uruguay gehörte 2006 zu den ersten Ländern mit Rauchverbot. Der Zigarettenkonsum ging signifikant zurück. Doch seit 2010 fordert der Tabakkonzern Philip Morris 25 Millionen Dollar Schadenersatz. Dahinter stecke eine weitreichende Strategie, vermuten Wissenschaftler.
Der von Palmen gesäumte Boulevard Artigas ist eine der Hauptverkehrsachsen von Montevideo, der Hauptstadt Uruguays. Eine junge Frau in marineblauem Sakko und gleichfarbiger Hose drückt ihre Zigarette mit der Schuhsohle auf dem Bürgersteig aus. Marisol Baresi, dichtes schwarzes Haar, grüne Augen und Sommersprossen, ist Krankenpflegerin. Zum Rauchen in der Mittagspause muss sie auf die Straße gehen. Ihre Kollegin Estela erzählt, dass sie mit dem Rauchen aufgehört hat, als bei ihr eine Krebserkrankung festgestellt wurde. Marisol hat nie versucht aufzuhören.
"Ich bin jetzt 39, und habe mit 23 zu rauchen angefangen. Erst nur in Gesellschaft, mal ein paar Züge, und plötzlich stellte ich fest, dass ich zehn Zigaretten pro Tag rauchte. Als ich mit 23 schwanger wurde, war ich, glaube ich, noch nicht so richtig abhängig, und während der Schwangerschaft habe ich gar nicht geraucht. Aber als mein Sohn ein Jahr alt war, habe ich wieder angefangen. Ich denke, ich werde irgendwann aufhören. Ich hoffe, ich brauche nicht erst so ein schreckliches Erlebnis."
Estela kommentiert das mit einem Lächeln, das zeigt, dass ihre Zähne immer noch vom Tabak verfärbt sind. Sie ist 56 und hat früher 80 Zigaretten am Tag geraucht. Vor sieben Jahren stellte eine Krebsdiagnose sie vor die Wahl: weiter rauchen oder weiter leben.
"Wenn ich Zigarettenrauch rieche, juckt es mich noch immer. Ich habe auch in der Schwangerschaft geraucht. Mal hier ein paar Züge, dann wieder eine Pause, ich habe es dann immerhin auf drei Zigaretten pro Tag reduzieren können. Meine Kinder haben Gott sei Dank keine Schäden. Aber es war einfach so: Ich konnte damals nicht aufhören!"
Wachsende gesellschaftliche Ablehnung von Rauchern
In Uruguay geht es in Gesprächen unter Kollegen, Freunden oder im Familienkreis oft ums Rauchen. Und es ist auch ein Topthema in der Politik. Das kleine Land gehört mit seiner Antitabakkampagne weltweit zu den Vorreitern der Bewegung. Zigaretten sind teuer, Warnungen auf den Schachteln obligatorisch, rauchfreie Zonen Vorschrift. Darüber hinaus finanziert der Staat sogar Entwöhnungskurse und lässt sein Antitabakprogramm wissenschaftlich begleiten. Die Zahl der Herzinfarkte ist zwischen 2005 und 2012 um 22 Prozent gesunken, die Zahl der Raucher im Alter von zwölf bis 17 ging von 31 auf zwölf Prozent zurück. Dafür ist der im vergangenen Frühjahr wiedergewählte Staatspräsident Tabaré Vázquez verantwortlich. Vor zehn Jahren, zu Beginn seiner ersten Amtszeit, erhob er den Kampf gegen das Rauchen zum zentralen Ziel staatlicher Politik. Er ist von Beruf Onkologe und lässt immer noch keine Gelegenheit aus, um über sein Herzensanliegen zu sprechen, wie hier in seiner Grußbotschaft am 8. März zum Internationalen Frauentag.
"Heute ist der Hauptfeind der Frauen - das muss einfach so deutlich gesagt werden - der Tabakkonsum. Und das ist nicht eine Obsession von mir, es ist Realität. In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts war in Uruguay Lungenkrebs bei Frauen praktisch unbekannt. Und seitdem ist die Sterblichkeit durch Lungenkrebs bei Frauen alarmierend gestiegen. Statistisch gesehen sterben hier in Uruguay täglich mehr Frauen an Lungenkrebs, am Rauchen, als an AIDS, Tuberkulose, häuslicher Gewalt, Alkohol und Verkehrsunfällen zusammen. Sie tötet der Tabakkonsum."
"Rauchen aufhören in einer Sitzung" heißt es in einer Anzeige auf der Internetseite der Stadt Montevideo. Doktor Inés López de Pereira hat sie geschaltet. Die auf Nikotinsucht spezialisierte Psychiaterin – Anfang 50, runde John-Lennon-Brille – begleitet jeden Satz mit einer ausdrucksvollen Geste. Die von ihr entwickelte Methode setzt bei dem System von Glaubenssätzen und Automatismen an, die der Grund dafür sind, dass der Raucher die Zigarette mit bestimmten Orten, Momenten und Gefühlen verknüpft.
"Es geht um eine Änderung der Einstellung. Ich sage nie, sie sollten aufhören zu rauchen. Das weiß ja jeder. Ich rede von dem Gefühl der Freiheit, dass Raucher erleben, wenn sie die Sklaverei beenden, denn es ist eine Sklaverei. Man ist 24 Stunden am Tag abhängig. In den Workshops erzählen mir Leute: 'Es ist drei Uhr morgens. Ich wache auf. Es regnet. Ich habe keine Zigaretten, und ich muss raus und mir welche holen.' Ein Gefühl der Panik tritt auf. Ich rede auch viel von Etiketten: 'Wenn Sie das Etikett Raucher haben, rauchen Sie. Und wenn man das Etikett Nichtraucher hat, raucht man nicht.' Dann gebe ich den Leuten den Rat, sich im Spiegel anzuschauen und sich mal unter dem Etikett Nichtraucher einzuordnen.
Ein Mann raucht eine Zigarette.
Die Zahl der Raucher ging in Uruguay nach dem Rauchverbot im öffentlichen Raum von 2006 signifikant zurück.© picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Dank der Antitabakpolitik der Regierung hat die Zahl der Anfragen zugenommen. Nicht nur ältere Leute, die schon jahrzehntelang rauchen, sondern auch Jugendliche wollen mit dem Rauchen aufhören. Denn Raucher sehen sich in Uruguay wachsender gesellschaftlicher Ablehnung gegenüber. Zur Nachsorge nutzt Doktor López soziale Netzwerke wie Facebook. Dort feiern Gruppenmitglieder zusammen jede rauchfreie Woche und posten Selfies mit Freunden und Familie, ohne Zigarette. Doktor Lopez liest eine SMS vor, die sie tags zuvor von einer 52-jährigen Frau erhalten hat, die früher drei Schachteln pro Tag rauchte:
"Sie schreibt: 'Hallo, wie geht es Ihnen? Ich drehe durch, wenn jemand neben mir raucht. Ich habe Albträume ... Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich meinen Neffen Zigarren holen schicke, weil ich vergessen habe, das ich nicht mehr rauche. Und er hat mir Mentholzigaretten mitgebracht. Ich nahm eine zwischen die Lippen, ich sagte mir: Ein Zug wird nicht so schlimm sein. Aber dann habe ich sie weggeworfen.' Das alles ohne Punkt und Komma. 'Was würde Freud zu meinem Traum sagen?' Dann habe ich geantwortet: 'Er würde staunen, wie tief sich die Furchen in die Psyche eingegraben haben.' Darauf sie: 'Über eines bin ich froh: Ich rauche nicht einmal im Traum, ist das nicht toll?'" (lacht)
Klage vor dem Schiedsgericht der Weltbank
Daniel Gómez nimmt heute Morgen an einer Sitzung des dem Gesundheitsministerium unterstellten Tabakkontrollzentrums im ersten Stock eines herrschaftlichen Hauses in der Altstadt von Montevideo teil. Er ist Mitte 50, trägt einen üppigen Schnurrbart und Hörgeräte in beiden Ohren. Er war fast 30 Jahre lang zuständig für die Qualitätskontrolle bei Abal Hermanos, der uruguayischen Tochtergesellschaft von Philip Morris. Vor vier Jahren wurde er zusammen mit 45 Kollegen gekündigt 'wegen Überregulierung des Tabakmarktes in Uruguay', so das Unternehmen. Zwei Jahre später gründeten acht der ehemaligen Angestellten eine Kooperative und bewarben sich als Kontrolleure beim Antitabakprogramm. Auf einem Notebook zeigt Daniel Gómez Fotos seiner täglichen Arbeit.
"Wir klingeln und stellen uns vor: 'Guten Morgen oder guten Tag, mein Name ist so und so, ich bin Inspektor, arbeite für das Gesundheitsministerium im Antitabakprogramm.' Wir kontrollieren, ob die Umgebung hundert Prozent rauchfrei ist, ob an entsprechenden Orten Rauchverbot gilt, ob der Verkauf von Zigaretten, wenn es Lokale sind, ordnungsgemäß durchgeführt wird. Und dann fragen wir, ob sie uns erlauben, eine Inspektion in bestimmten Bereichen durchzuführen: Umkleideräume, Toiletten, Speiseräume. In 95 Prozent der Fälle sind wir willkommen, denn generell stößt die Politik zur Tabakkontrolle in Uruguay auf breite Zustimmung."
Einer der für Montevideo typischen Kioske im Univiertel Cordón. Hinter einer Art Schalter steht Darío González. Vor sich die Tageszeitungen und Rätselhefte und hinter sich ein bis zur Decke reichendes Regal vollgestopft mit Bonbons, Kaugummis und Schokolade. Gerade lädt er einer Kundin neues Guthaben auf deren Handy. Tabakreklame - Fehlanzeige. Auf die Frage nach Zigaretten bückt er sich und fördert eine Schachtel zu Tage. Unter dem Schockfoto eines Raucherbeins steht: "Dein schlimmster Feind ist die Zigarette. Hör auf zu rauchen!"
"Dass in öffentlichen Räumen nicht mehr geraucht wird, ist super. Denn, mal ehrlich, überall ist man ja vorher fast erstickt. Aber für mich hat das Ganze natürlich auch eine Kehrseite. Früher habe ich ein bisschen Geld bekommen, wenn ich Zigarettenreklame aufgehängt habe. Damit ist nun natürlich Schluss. Mittlerweile wird die Regelung respektiert. Vom Umsatz her hat sich für mich nichts geändert."
Zigarettenschachteln mit Warnungen vor den Gesundheitsgefahren des Rauchens stehen in einem Regal.
Zigarettenschachteln in Uruguay mit Warnungen vor den Gesundheitsgefahren des Rauchens.© picture alliance / dpa Fotografia / Federico Gutierrez
Im Jahr 2010 verklagte das Tabakunternehmen Philip Morris Uruguay beim ICSID, dem für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zuständigen Schiedsgericht der Weltbank. Die Antitabakpolitik Uruguays verletze ein 1988 zwischen Uruguay und der Schweiz, dem Sitz des Tabakkonzerns, unterzeichnetes bilaterales Abkommen zum Schutz von Investitionen. In Uruguay darf eine Zigarette nur in einer Variante verkauft werden. Phillip Morris fordert den Marktzugang für weitere Light- und Mentholzigaretten und dass die Schockfotos nicht mehr 80 Prozent, sondern nur noch die Hälfte der Packungen bedecken sollen. Vor drei Jahren hat die Philip-Morris-Tochtergesellschaft Abal Hermanos die Produktion nach Argentinien verlagert. Für Öffentlichkeitsarbeit in Uruguay ist die Agentur Compass zuständig. Am Telefon sagt deren Mitarbeiter Pablo Alvarez, erst nach Verkündung des Urteils voraussichtlich Ende des Jahres würden Erklärungen abgegeben.
Das erste Mal geht ein Konzern juristisch gegen ein UN-Abkommen vor
Auskunftsbereiter ist der Direktor einer Werbeagentur in Montevideo, zu deren wichtigsten Kunden die Zigarettenfirmen gehörten. Er zieht es vor, seinen Namen nicht zu nennen. Die Plakate im Meetingraum für eine Straßenverkehrskampagne - "Der Motorroller nützt, nur wenn der Helm schützt." - zeigen, dass er auch für Regierungsbehörden tätig ist. Er ist etwa 40, freundlich, aber bestimmt. Der Werbefachmann hat sich Stichpunkte notiert, die er bei der Antitabakkampagne für paradox hält. Der Staat verbietet Werbung für Zigaretten, legalisiert aber gleichzeitig Marihuana und beteiligt sich an der Produktion. Die Preiserhöhung fördere den Zigarettenschmuggel.
"Man verbietet Werbung für ein Produkt, das auf dem Markt ist, weil es der Gesundheit schadet. Aber: Wenn es schlecht ist, warum verbietet man das Produkt dann nicht? Das ist die große Frage. Wenn es so schlimm ist, verbietet es! Also, was geschieht hier? Es geht um eine große Industrie, um tausende von Arbeitsplätzen und der größte Teil des Preises einer Schachtel Zigarette in Uruguay sind Steuern. Es ist also doppeltes Spiel. Man verbietet Werbung, aber nicht das Produkt, weil man selber dran verdient."
In der Empfangshalle der Ärztekammer von Uruguay wartet Doktor Eduardo Bianco. Er leitet ein Forschungsinstitut, das die Antitabakkampagne der Regierung wissenschaftlich begleitet. Vor zehn Jahren hat das Land ein Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation über die Kontrolle des Tabakkonsums unterzeichnet und gilt unter den 177 Staaten, die es ratifiziert haben, als Vorreiter. Es ist das erste Mal, dass ein Konzern juristisch gegen ein UN-Abkommen vorgeht, sagt Eduardo Bianco. Den Streitwert von 25 Millionen Dollar, - vorher war von zwei Milliarden die Rede, einem Sechstel des Staatshaushaltes von Uruguay -, hält er für eher symbolisch.
"Dahinter steckt eine weiterreichende Strategie. Es geht gar nicht so sehr um Uruguay. Denn hier geht es um 20 Prozent Anteil an einem Markt von drei Millionen Einwohnern. Hier geht es darum, Länder einzuschüchtern, vor allem unterentwickelte Länder. Es ist ein Spiel: Volksgesundheit gegen Profit. Für uns ist es ein Auswärtsspiel auf einem Platz, wo von gewerblichen Schutzrechten, von registrierten Marken und geistigem Eigentum die Rede ist. Das bilaterale Investitionsschutzabkommen, auf das sich der nordamerikanische Konzern, der seinen Firmensitz aus strategischen Gründen in der Schweiz hat, beruft, besagt, dass Staaten das Recht haben, wenn es um Gesundheit, Sicherheit oder Ähnliches geht, Entscheidungen zu treffen, die die Nutzung einer Marke einschränken können. Für Uruguay ist der Fall klar, aber die gegnerischen Anwälte suchen im Kleingedruckten herum."
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