"Pflege wird teurer"

Jens Spahn im Gespräch mit Martin Steinhage und Matthias Thiel · 26.02.2011
Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn, erteilt Forderungen aus den Reihen der FDP nach einer kostenneutralen Reform der Pflege eine Absage. Er hebt hervor, dass die Leistungen der Pflegeversicherung ausgeweitet werden sollen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Spahn, Sie haben kürzlich gesagt, das Jahr 2011 werde das "Jahr des Patienten". Klingt gut, aber können Sie uns kurz und knackig sagen, woran Sie das eigentlich festmachen?

Jens Spahn: Ein Perspektivwechsel, den wir auch in der Politik einnehmen wollen. Wenn wir über Ärztehonorare reden oder Apothekenabschläge, Pharmaindustrie, dann reden wir natürlich auch immer über die Versorgung des Patienten – indirekt. Und jetzt sich einfach mal in die Rolle des Patienten versetzen: Was erlebt er im Versorgungsalltag? Wartezeiten auf Facharzttermine hängen mit Vergütung zusammen, aber sein Blickwinkel ist Wartezeit. Die Frage: Wie ist die Unterbringung im Krankenhaus? Die Frage: Wie sieht's mit meinen Rechten aus als Patient? Wie lange muss ich, wenn ich einen Antrag stelle, auf eine Genehmigung warten? Diese praktischen Dinge im Versorgungsalltag wollen wir in diesem Jahr mal konkret angehen.

Deutschlandradio Kultur: Zu diesen praktischen Dingen im Versorgungsalltag gehört auch die Pflege. Die Koalition hatte ja beabsichtigt, die Familienpflegezeit jetzt verbindlich einzuführen. Seit eineinhalb Wochen wissen wir nun, dass es damit nix wird, es sei denn, es wird auf freiwilliger Basis gemacht, also findet ja eigentlich damit nicht statt, denn die Arbeitgeber müssten mitspielen. Wie passt das denn nun zum Jahr des Patienten?

Jens Spahn: Na, da habe ich eine grundlegend andere Einschätzung. Das ist wie bei der Altersteilzeit, dass tarifvertraglich eine Regelung überlassen ist, eine Familienpflegezeit zu machen, dass wir aber einen gesetzlichen Rahmen machen – auch für die Frage: Wie wird das denn dann abgewickelt? Welche Rechte hat auch dann der Arbeitnehmer? Und dass man dann für eine bestimmte Zeit weniger arbeitet, trotzdem weiterhin mehr Geld bekommt, um diese Zeit später, wenn sich das mit dem Pflegfall dann in der Familie erledigt hat, etwas mehr wieder zu arbeiten, ohne das entsprechende Geld zu bekommen, also flexibler zu sein für den Fall, dass jemand in der Familie pflegebedürftig wird. Wir tun unheimlich viel für Eltern, die Kinder haben – Elternzeit, damit man sich da die nötige Zeit auch nehmen kann, die man auch braucht, die es auch geben muss. Aber wenn es andersrum ist, dass Kinder sich um ihre Eltern kümmern wollen, da gibt’s bis jetzt wenig.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie mich an dieser Stelle nachfragen: Glauben Sie wirklich, dass die Arbeitgeber da mitspielen? Denn die haben ja alle schon protestiert. Die Wirtschaft hat gesagt, "können wir uns gar nicht leisten".

Jens Spahn: Also, da haben Sie andere Stellungnahmen der Wirtschaft gehört, weil die Wirtschaftsverbände, so wie die Regelung jetzt vorgeschlagen ist, sie sehr begrüßt haben, weil sie sie finanziell nicht belastet. Es ist ja sozusagen so, dass über fünf oder sechs Jahre gesehen man in Form eines Arbeitszeitkontos und Vergütungskontos keine zusätzliche Belastung hat, aber Flexibilität eben für die Zeit, in der ich meine Mutter, meinen Vater pflegen muss.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem noch mal nachgehakt: Von rund 2,3 Millionen Pflegefällen werden über zwei Drittel zu Hause von Angehörigen betreut. Das ist in aller Regel für die Betroffenen die bessere Lösung, weil sie eben zu Hause bleiben können. Und für die Pflegekassen ist es auch die finanziell günstigere Lösung. Auch vor diesem Hintergrund ist doch die nun gefundene Lösung auf freiwilliger Basis – Klammer auf, wo man ursprünglich vor hatte, das verbindlich zu machen – im Grunde genommen nur eine hohle Phrase. Das führt doch nicht wirklich weiter. Das, was man jetzt einführt zum 1.1.2012, hätte man doch eigentlich auch ohne Gesetz haben können?

Jens Spahn: Nein, weil es, ich sage noch mal, es ist wie bei der Altersteilzeit auch, weil es gesetzliche Rahmen braucht, auch für die Frage: Was ist etwa bei der Insolvenz des Unternehmens mit meinen Ansprüchen als Arbeitnehmer und umgekehrt für den Arbeitgeber?

Deutschlandradio Kultur: Dafür wird ja eine Versicherung fällig.

Jens Spahn: Ja, genau, aber dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage. - Wir können ja einfach mal eine Absprache treffen. Wir treffen uns in ein oder zwei Jahren noch mal wieder. Und ich glaube, wir werden positiv überrascht sein, wie viele auch entsprechend tarifvertragliche Regelungen es gibt, weil der kluge Arbeitgeber und im Übrigen auch der kluge Gewerkschaftler nicht nur über die Euros mehr beim Lohn redet, sondern vor allem auch um die Frage: Wie können wir flexibler beim Familienleben - wenn Eltern für Kinder, aber eben auch, wenn Kinder für zu pflegende Eltern einstehen - Regelungen schaffen? Ich bin sehr sicher, dass das ein Erfolgsmodell ist.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben ja schon heute einen eklatanten Fachkräftemangel in der Pflege. Es fehlen über 50.000 Pflegekräfte. In den nächsten zehn, 15 Jahren, so heißt es, wird sich diese Zahl vermutlich verdreifachen. Dann fehlen 150.000, sagt das Statistische Bundesamt. Wie wollen Sie diesen Mangel konkret beheben?

Jens Spahn: Ich denke, es geht zum einen um Kohle, um Geld, um die Frage natürlich, wie attraktiv ist es, in dem Job zu arbeiten. Was kann ich da verdienen, also Verdienstmöglichkeiten. Es geht aber zum Zweiten - das ist, glaube ich, noch wichtiger - auch um die Frage der Anerkennung dieses Berufes in der Gesellschaft. Ein Arzt ist anerkannt, und viele andere Berufe auch, aber Pflegekräfte müssen sogar oft damit leben, dass abends in den Fernsehsendungen nur die Pflege-Skandale thematisiert werden, die es ohne Zweifel gibt, aber es ist nicht die Regel. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie sind jemand, der im Pflegeheim arbeitet, und abends wird wieder nur so getan, als würden in jedem Pflegeheim, in jeder Pflegeeinrichtung die Menschen ans Bett gefesselt, sie würden nicht genug zu Trinken kriegen, also ganz furchtbar behandelt werden, obwohl sie...

Deutschlandradio Kultur: Was es natürlich gibt...

Jens Spahn: Was es gibt in Einzelfällen. Aber ich behaupte, 90, 95 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pflegeeinrichtungen arbeiten mit großer Hingabe, mit großer Leidenschaft, mit viel Empathie und bei nicht übermäßigem Verdienst. Und die müssen sich doch vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn sie sich in ihrer Familie, in ihrem Freundeskreis dann rechtfertigen müssen, wenn es wieder heißt, "ach, ihr kümmert euch doch eh nicht richtig, das sind doch eh nur Skandale".

Also, die Frage, wie sieht es eigentlich aus in den Pflegeeinrichtungen, welches Bild wird gezeichnet vom Beruf der Pflegekraft, eigentlich ein Beruf, der immer wichtiger wird, weil wir immer mehr brauchen - also, ich sage den Schulklassen immer, "überlegt ihr mal, 2070, wenn ihr 80 seid oder 70 seid, wer soll euch denn dann pflegen, wir werden auf jeden Fall mehr Bedarf dann haben" -, wie wir diesen Beruf in der Öffentlichkeit, in der Gesellschaft zeichnen. Und da braucht es auch von allen Beteiligten auch den Willen zu einer größeren Anerkennung, nicht nur finanziell, aber sicher auch.

Deutschlandradio Kultur: Auch die finanzielle Anerkennung zählt doch. Sie sprachen es schon an, diesen harten Beruf, den der Pfleger zweifelsohne hat, die Pflegerin. Müssen wir nicht da auch was in dem Einkommensbereich der Pfleger, der Pflegerin tun?

Jens Spahn: Zum Ersten, für die Pflegehilfskräfte, also die nicht examinierten Pflegekräfte, gibt’s mittlerweile einen Pflegemindestlohn...

Deutschlandradio Kultur: Den die kirchlichen Träger nicht zahlen müssen.

Jens Spahn: ... als untere Grenze. Die kirchlichen Träger sind an vielen Stellen was Besonderes, das stimmt. Und zum Zweiten, bei den gut ausgebildeten Pflegekräften gibt’s ja mittlerweile eher eine größere Nachfrage als Angebot auf dem Arbeitsmarkt. Das führt dazu, dass in manchen Bereichen die Löhne automatisch schon steigen, wie das ja meistens dann in einer solchen Konstellation ist. Es ist meine feste Überzeugung, das wird für die Zukunft auch so weitergehen. Wer qualifiziertes Pflegepersonal in seiner Einrichtung haben will, muss – und das müssen die Arbeitgeber dann auch anerkennen und erkennen – an der Stelle auch mehr zahlen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Spahn, ohne die Unterstützung illegaler Haushaltskräfte vor allem aus Osteuropa ließe sich in zig-tausenden von Fällen die pflegerische Betreuung von Verwandten schon lange nicht mehr organisieren. Das ist ein offenes Geheimnis, Sie wissen das sowieso. Wann endlich wird sich die Politik dieses Themas annehmen, das immer mehr Menschen als sehr bedrängend empfinden?

Jens Spahn: Also, zum Ersten gibt’s ja auch legale Möglichkeiten der Beschäftigung von Hilfskräften...

Deutschlandradio Kultur: Teuer, teuer, teuer.

Jens Spahn: ... auch aus Osteuropa. Das wird zum 1. Mai sich etwas entspannen, weil dann ja die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für die osteuropäischen EU-Länder auch in Deutschland gilt. Dann braucht man zumindest keine Arbeitsgenehmigung und alle diese Dinge mehr. Aber es gibt daneben natürlich noch einen großen illegalen Bereich, wo es auch weit über die Stundenzahlen hinausgeht, die man sonst machen würde - rund um die Uhr, 24 Stunden und auch nicht immer werden dann Sozialversicherungsabgaben gezahlt. Das ist also klassische Schwarzarbeit eigentlich.

Ich halte nichts davon, das zu kriminalisieren nach dem Motto, wir schicken jetzt den Zoll und die Fahnder da hinterher, um da in jede Familie reinzugehen. Sondern wir sollten mal etwa nach Österreich schauen, wo es Modelle gibt, diese Form zu legalisieren. Ich habe da noch nicht die Ideallösung, aber ich finde, wir sollten schauen, ob es da Wege geben kann, diese Form von Unterstützung sich in die Familie zu holen, auch legal zu machen, Angebote zu machen, die gangbar sind, damit wir die Menschen da nicht mehr in die Kriminalität...

Deutschlandradio Kultur: So was wie haushaltsnahe Dienstleistung auf 400-Euro-Basis oder so etwas? Oder die Green-Card für ausländische Arbeitnehmer im Pflegebereich?

Jens Spahn: Die Green-Card ist ja dann nicht mehr das Thema für die osteuropäischen Länder ab dem 1. Mai mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Also, die Arbeitsgenehmigung ist da. Die Frage ist halt nur: Wenn jemand einzieht, wie ist das mit 24-Stundenbetreuung? Wie ist das eben auch mit den Sozialabgaben? Wie gesagt, ich kenne das österreichische Modell noch nicht in aller Tiefe, aber die haben anscheinend eine Lösung gefunden. Und wir haben uns schon gesagt, wir gucken uns das mal an und schauen, ob das auf Deutschland übertragbar ist.

Deutschlandradio Kultur: Die Koalition will in diesem Jahr die Pflegeversicherung reformieren und sie dabei zukunftsfest machen. Was muss dabei aus Ihrer Sicht passieren? Was steht da im Mittelpunkt für Sie persönlich und für Ihre Partei?

Jens Spahn: Es steht zweierlei im Mittelpunkt. Das eine ist, den Pflegebedürftigkeitsbegriff weiterzuentwickeln, also die Frage, wann braucht eigentlich jemand Unterstützung aus der Pflegeversicherung. Die stellt ja heute fast nur auf körperliche Unzulänglichkeiten ab, berücksichtigt aber zum Einen nicht, wie selbständig kann jemand noch was tun - aber vor allem eben auch geistige Einschränkung, wenn etwa Demenz mit im Spiel ist. Es gibt viele Menschen, die können sich körperlich meinetwegen noch die Zähne putzen, sie müssen nur dran erinnert werden, es zu tun. Oder ihnen muss gezeigt werden, wie es geht. Das findet sich heute in der Pflegeversicherung fast gar nicht wieder – bis auf kleine Pauschalen, die gezahlt werden. Und das wollen wir verändern. Daran ist 1995 einfach nicht gedacht worden, als die Pflegeversicherung eingeführt wurde.

Aber es bleibt dabei, das will ich auch noch mal sagen, dass die Pflegeversicherung eine Teilkostenversicherung ist. Sie wird sicherlich nicht einhundert Prozent aller anfallenden Kosten übernehmen können.

Das Zweite ist, das ist mir auch als Jüngerer sehr, sehr wichtig, dass wir es schaffen, zu einer tragfähigen dauerhaften Finanzierung zu kommen in Form einer Kapitalrücklage, dass wir also – das ist die Wahrheit – heute etwas mehr Geld nehmen, um damit in 20, 25, 30 Jahren eben auch Pflege mit zu bezahlen, um die dann Jüngeren von 2030, 2040 nicht übermäßig zu belasten. Denn wir brauchen sie erstens als Person, um uns zu pflegen. Und wir brauchen sie zweitens auch als Finanziers. Und wir wissen heute schon, es werden weniger Jüngere 2030 sein als wir heute haben.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben die Demenzkranken angesprochen. Wir haben heute 1,3 Mio. Demenzkranke. Es wird sich innerhalb von nicht einmal einer Generation diese Zahl verdoppeln. Was kann, was muss die Politik tun über die neue Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs hinaus, um dieser wachsenden Gruppe gerecht zu werden?
Jens Spahn: Zum Ersten müssen wir noch mal – da passiert auch eine ganze Menge – über die Frage der Wohnformen reden. Also, stationär, Heimunterbringung alleine im Zimmer ist da nicht für jeden die Lösung, sondern auch neue Wohnformen, wo man gemeinsam kocht, auch gemeinsam in der Gruppe Aktivitäten unternimmt, die auch an früher erinnern, wo ja viele Erinnerungen auch gerade bei Demenzkranken wiederkommen.

Deutschlandradio Kultur: Also betreutes Wohnen in der WG?

Jens Spahn: Betreutes Wohnen und ambulantes Wohnen. Da gibt´s mittlerweile eine ganze Palette von kreativen Konzepten. Und da, finde ich, müssen wir einfach auch mehr möglich machen, wir haben heute Schwarz-Weiß, ambulant oder stationär, aber wenig dazwischen, um da eine größere Flexibilität zu haben. Es braucht auch ein gesellschaftliche Anerkenntnis, das ist gerade für uns Christdemokraten auch wichtig, glaube ich, dass man nicht alles zu Hause lösen kann.

Wir wollen ambulant vor stationär, aber ich weiß aus der eigenen Kindheit, das ist mir erst später bewusst geworden, dann hat's immer geklopft an der Tür, während wir spielten im Spielzimmer. Und wir fragten immer, wer ist denn da, da hieß es immer, die Oma. Aber da war offensichtlich, die wussten nicht, wie umgehen ist mit der demenzkranken Oma, und die wurde dann einfach eingesperrt. Und das kann Familien überfordern. Da können Familien dran zugrunde gehen. Und deswegen gehört dazu auch die Debatte, ab wann geht vielleicht manches auch nicht mehr zu Hause, sondern braucht auch eine professionelle Begleitung, vielleicht auch stationär.

Deutschlandradio Kultur: Jeder sechste Pflegende leidet seinerseits unter einer Depression.
Jens Spahn: Und das ist dann auch ein dritter wichtiger Punkt. Wie können wir Angehörige begleiten? Also, wir müssen zum einen übrigens die Pflegekräfte, die Professionellen begleiten. In guten Einrichtungen findet Supervision, wie das dann im Fachbegriff heißt, statt, auch Seelsorge etwa in den christlichen Einrichtungen, also, um Eindrücke zu verarbeiten. Aber das braucht es für die Angehörigen auch. Die müssen auch die Chance haben, mal mit gleich Betroffenen sich auszutauschen, aber auch vielleicht mal eine Auszeit zu nehmen. Sonst kann das sehr, sehr stark überlasten.

Aber wenn ich zur Demenz noch einen Gedanken machen darf: Stellen Sie sich vor, wir hätten endlich ein Medikament gegen Demenz, es wird ja daran geforscht. Bis heute können wir ja es fast nicht mehr aufhalten. Wir würden auf einmal binnen weniger Tage, Wochen, wahrscheinlich eine völlig andere Pflegedebatte haben. Also, ich bin da auch nicht so pessimistisch und sage, alles, was wir heute haben, der Zustand wird sich einfach in 20 Jahren noch wieder so spiegeln - sondern vielleicht gibt’s dann ganz andere Erkrankungen. Weil wir dann doch wieder älter geworden sind, gibt’s aber auch wieder neue Krankheitsbilder.

Aber ich lege auch schon Hoffnung hinein, dass wir auch in der Medizin in der Forschung zu Ergebnissen kommen, die vielleicht da auch manches Leid lindern können.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir ganz kurz bei den Angehörigen der Pflege. Gehört zu Ihren Wünschen, auch zu Ihren Prioritäten vielleicht dazu, dass auch die Pflegezeit als Rentenanwartschaftszeit auch anerkannt wird?

Jens Spahn: Das ist ja heute schon so, dass bei pflegenden Angehörigen, Kindern, die ihre Eltern pflegen beispielsweise, das mit angerechnet wird.

Deutschlandradio Kultur: Gut, bessere Rentenansprüche…Peanuts im Vergleich zur Kindererziehung…

Jens Spahn: Warten Sie mal, angerechnet wird übrigens mehr als man denkt. Das sind nicht nur Peanuts. Wenn man es mal umrechnet, was man dafür an Beitrag hätte zahlen müssen, ist gar nicht so wenig. Aber ich glaube nicht, dass das eine wirklich faire, tragfähige Lösung ist. Denn die Frage ist ja: Wer muss denn dann die Rente zahlen? Und die Rente müssen dann auch wieder die Jungen von 2040 zahlen, also für die pflegenden Angehörigen.
Da fände ich es fairer, heute beispielsweise die Kinderlosen, das ist ja heute in der Pflegeversicherung schon so, einen noch etwas höheren Beitrag leisten zu lassen und dieses Geld zurückzulegen für später.

Die einen sparen sozusagen in der Pflegeversicherung an, indem sie die künftigen Beitragszahler großziehen. Und die Kinderlosen, wie ich auch, die müssen dann einen höheren Beitrag zahlen und daraus wird auch noch mal was zurückgelegt für diese spätere Zeit. Das haben wir, wie gesagt, heute im Ansatz schon in der Pflegeversicherung. Das finde ich fairer als Familienaspekt, unterstützenden Aspekt als Rentenanwartschaften zu versprechen, die dann am Ende doch wieder die Jüngeren von 2040 bezahlen müssen, wo es dann in der Rente sowieso schon schwierig ist – lieber Geld zurücklegen als Versprechen machen.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt sind wir zwangsläufig, das musste ja so kommen, beim lieben Geld. Nicht der liberale Bundesgesundheitsminister, aber doch seine FDP sagt, "man kann alles machen, solange es nicht mehr kostet in der Pflege". Wie bitte soll das gehen?

Jens Spahn: Kurze Antwort ist: Das geht nicht. Also, die Dinge, über die wir jetzt schon hier bisher gesprochen haben, die auch in der öffentlichen Debatte sind, die Frage besserer Anerkennung von Demenz, die Frage, wie wollen wir Angehörige unterstützen, die Frage auch, wie wollen wir die Leistungen dynamisieren - seit 1995 sind sie ja, bis auf einmal in der Großen Koalition, nicht angepasst worden -, das kostet zusätzlich Geld. Und wer bei steigenden Zahlen von Pflegebedürftigen suggerieren will, es wird nicht teurer, der macht den Menschen was vor.

Deutschlandradio Kultur: Gerade die Dynamisierung wäre jetzt ganz dringend notwendig geboten.

Jens Spahn: Genau. Die ist ja auch ein Thema in den nächsten Jahren. Die wird auch Geld kosten. Deswegen ist die ehrliche Antwort schlicht und ergreifend: Pflege wird teurer.
Deutschlandradio Kultur: Und wie kriegen Sie das mit Ihrem liberalen Koalitionspartner unter einen Hut?

Jens Spahn: Also, mein Eindruck ist, dass die Diskussion, auch innerhalb der FDP, wesentlich breiter aufgestellt ist als vielleicht das eine Zitat, das es ja gab und gibt, und das die Meinung auch dargestellt hat, dass das einige auch anders sehen und dass wir da am Ende – bin ich optimistisch – zu einem guten Ergebnis kommen werden.

Ich sage noch mal: Die ehrliche Botschaft - das ist neu übrigens - dieser Koalition ist, dass Gesundheit und Pflege in einer älter werdenden Gesellschaft, die auch den Fortschritt zugänglich halten will, teurer werden wird. Das sagen wir, von der Bundeskanzlerin an, in nahezu jedem öffentlichen Statement, weil das auch in die Köpfe muss. Es ist die Wahrheit. Es ist eine simple Wahrheit. Es ist eine banale Wahrheit, aber keine populäre Wahrheit. Und so wird’s auch bei der Pflege sein.

Deutschlandradio Kultur: Ulla Schmidt hat das natürlich auch schon immer gesagt, und das wollten viele dann auch nicht hören.

Jens Spahn: Das stimmt. Natürlich haben es auch andere früher schon gesagt. Aber manchmal habe ich so den Eindruck, dass wir alle gemeinsam, das ist jetzt gar keine Parteienfrage, das in größerer Stringenz noch vortragen und ins Bewusstsein bringen sollten, auch den Menschen, auch den älteren Menschen ins Bewusstsein bringen. Die Rentner beschweren sich oft, dass sie einen Pflegeversicherungsbeitrag, wenn der sich erhöht, alleine tragen müssen. Und ich gebe dann aber zurück, aber ihr wollt doch dann auch, wenn es für euch zum Pflegefall kommt, eine gute Pflege haben. Also, man kann nicht alle Leistungen wollen, für sich wünschen wollen, aber nicht bezahlen wollen. Das funktioniert nicht.

Deutschlandradio Kultur: Okay. Und dann ist es nicht zu bezahlen, also wird’s doch Leistungskürzungen auch im Pflegebereich geben.

Jens Spahn: Nein.

Deutschlandradio Kultur: Oder widersprechen Sie mir jetzt vehement, wenn ich sage, da kommt nur noch die Pflegegrundsicherung bei raus, weil mehr können wir uns nicht leisten?

Jens Spahn: Ich sage noch mal: Wir haben in der Pflegeversicherung ja im Grunde eine Teilkostenabsicherung. Es werden nicht, wie in der Krankenversicherung, alle nötigen Kosten ersetzt, sondern ja Zuschüsse je nach Pflegestufe gegeben. Das ist übrigens auch ein Stück weit berechtigt, weil, etwa bei einer stationären Einrichtung, die Miete müsste ich in meiner Wohnung ja auch zahlen oder die Ernährung. Also muss ich auch da einen Eigenbeitrag bringen.
Aber wir wollen das ein Stück weit erweitern, dynamisieren, aber wir werden niemals, das ist auch eine ehrliche Antwort, die Vollkostenübernahme an der Stelle haben. Aber ich glaube schon, dass ich sagen kann, auch für diese Koalition sagen kann, dass es nicht zu Leistungseinschränkungen, sondern im Gegenteil – Blick Demenz etwa – zu Leistungsausweitungen bei dieser Pflegereform kommen wird. Aber ich sage noch mal: Das wird teurer werden.

Deutschlandradio Kultur: Wie wird denn dann dieses Geld generiert? Wo soll es herkommen? Soll es der Steuerzahler bezahlen oder sollen es die Arbeitnehmer – Klammer auf – Beitragszahler aufbringen, gemeinsam mit dem Arbeitgebern. Oder vielleicht auch nur die Arbeitnehmer, so wie sich das die FDP vorstellt?

Jens Spahn: Zum Ersten ist es ja spannenderweise so, das ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, dass die Pflegeversicherung im Grunde ja nur von den Arbeitnehmern bezahlt wird. Es ist ja der Buß- und Bettag seinerzeit als freier Tag gestrichen worden. Und damit sind die Arbeitgeber entlastet worden. Also, die Pflegeversicherung wird heute eigentlich ausschließlich von den Arbeitnehmern bezahlt.

Und wir haben ja die Varianten aufgezeigt. Entweder Beitragserhöhung, Steuerzuschuss oder eben eine Prämie.

Deutschlandradio Kultur: Was präferieren Sie?

Jens Spahn: Ich glaube, wir brauchen einen gesunden Mix aus verschiedenen Komponenten. Und wie genau sich dieser Mix zusammenstellt, da sehen Sie mir nach, wenn ich das nicht im Radio hinausposaune, sondern das wir darüber erst mal intern beraten. Das wird einer der Knackpunkte, so ehrlich kann man ja sein, in der Beratung von CDU/CSU und FDP sein, weil es da unterschiedliche Ideen gibt.

Deutschlandradio Kultur: Also auch der private Bereich wird ausgeweitet. Und es ist immer die Rede davon, dass auch der Kapitalstock da mit rein muss. Wie kann man das sozialverträglich dann noch aufbauen?

Jens Spahn: Also, mein Eindruck ist, dass mittlerweile eine große Einsicht darin da ist, dass wir in der Pflegepflichtversicherung ein Stück weit auch kollektive Elemente in der Kapitaldeckung brauchen. Also, nicht jeder spart für sich irgendwie in einem eigenen Vertrag an.

Deutschlandradio Kultur: Deswegen ist Riestern auch tot an der Stelle?

Jens Spahn: Deswegen ist Riestern für die Pflegepflichtversicherung, für die Absicherung der gesetzlichen Pflegeversicherung, tendenziell eher tot. So waren ja auch schon Äußerungen von den beiden anderen Koalitionsparteien CSU und FDP. Aber es muss darum gehen, einen Kapitalstock zu bilden, der vor allem vor dem Zugriff der Politik sicher ist. Das sage ich auch selbstkritisch. Wer immer in zehn oder 15 Jahren politische Verantwortung hat, darf nicht einfach dieses Geld verwenden können, um damit – was weiß ich – ein Loch in der Arbeitsagentur zu finanzieren, sondern es muss wirklich sicher zur Seite geschafft werden. Darin sind wir uns ziemlich einig und auch darin, dass wir einen Kapitalstock wollen. Wie und wie der sich finanziert und wie groß er werden soll, das ist ehrlicherweise noch zu beraten.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben Sie denn, oder bleiben auch Sie beim christdemokratischen Mantra, dass eine Bürgerversicherung an der Stelle nicht weiterführt? Bürgerversicherung heißt ja, dass eben nicht nur Einnahmen aus dem Erwerbsleben, sondern auch aus Mieten, Zinsen, Dividenden Berücksichtigung fänden bei der Erhebung des individuellen Pflegebeitrags. Da würde ja mehr Geld reinkommen. Wäre das nicht fair?

Jens Spahn: Zum Ersten heißt Bürgerversicherung erst mal nur, dass man einen einheitlichen Versicherungsmarkt hat, also, es nicht mehr private Absicherung gibt und gesetzliche. Das können Sie nur lösen, wenn Sie es in der Krankenversicherung mit lösen. Es ist ja so, dass die Pflegeversicherung der Krankenversicherung folgt. Also, ich bin bei der Krankenkasse pflegeversichert, bei der ich auch krankenversichert bin. Beziehungsweise, wenn ich privat krankenversichert bin, bin ich auch dann entsprechend privat pflegepflichtversichert.

Und dann muss man es im Gesamtkontext lösen. Da bin ich schon Anhänger davon, dass man mittelfristig beide Systeme zusammenführt, also diese Trenngrenze nicht mehr hat, eher aber mit Elementen, auch etwa, dass man dann den Körperschaftsstatus nicht mehr hat, hin zum Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit für die gesetzlichen Kassen. Dass wir aber die Frage Mieten und Zinsen, das alles zu verbeitragen...ich hab mal während meiner Bankzeit kurz auch in Luxemburg gearbeitet: Das trifft den Pensionär mit seinem Pensionsfonds genauso wie die großen Kapitalanleger. Die gehen einfach aus dem Land raus. Wer soll in Deutschland noch in Mietwohnungen investieren? Also, da ist es fairer, das übers Steuersystem zu machen. Das Geld, das ja sowieso - Steuern werden erhoben auf Zinsen und Mieten und andere Einkünfte - und dann einen Steuerzuschuss zu machen, wie wir ihn in der Krankenversicherung machen, ist am Ende fairer und bringt mehr als wenn wir das Kapital aus dem Land jagen. Da haben wir auch nix von.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns ganz kurz noch ein Problem ansprechen: Stichwort Pflege-TÜV. Es herrscht ja nun weitestgehend Einigkeit darüber, dass die bisher geltenden Qualitätskriterien den Betroffenen wenig oder gar nicht helfen. Orientierung gibt’s dadurch wenig. Wie will die Koalition diese Defizite überwinden?

Jens Spahn: Wir wollen auf jeden Fall an so einem Pflege-TÜV festhalten, weil wir die Transparenz für wichtig halten. Man muss relativ einfach erkennen gewisse Qualitätsmerkmale der Pflegeeinrichtungen können. Das wollen wir übrigens in Zukunft Schritt für Schritt auch für Krankenhäuser haben. Die Menschen haben ein großes Bedürfnis danach, vergleichen zu können. Und es ist besser, wir machen strukturierte Vergleichsangebote, als irgendwie "Spick-mich.de" im Internet.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Speisekarte, die schön geschrieben ist, oder die Weiterbildungsangebote für die Pflegekräfte – das ist ja nicht das entscheidende Merkmal.

Jens Spahn: Und dabei ist es aber wichtig, dass man auf die richtigen Merkmale setzt. So wie es heute ist, dass ein gutes Speiseangebot schlechte Pflege sozusagen in der Gesamtnote wettmachen kann, dabei darf es nicht bleiben. Und die gesetzgeberische Regelung, das zu ändern, ist sogar schon auf dem Weg. Das wird zu Mitte des Jahres passieren. Da sind wir, übrigens mit den großen Verbänden, auch den Trägern, den großen Trägerverbänden einig: Das ist kein haltbarer Zustand.

Deutschlandradio Kultur: Herr Spahn, zum guten Schluss noch ein paar Fragen zur Person. Nach Abitur und einer Ausbildung als Bankkaufmann - Sie haben das ja eben schon kurz erwähnt - haben Sie an der Fern-Uni Hagen den Bachelorabschluss in Politikwissenschaft gemacht. Nun studieren Sie noch weiter. Und Sie sind ja seit 2002 Bundestagsabgeordneter. Wir fragen aus aktuellem Anlass: Wie schaffen Sie das alles?

Jens Spahn: Also, meine Bachelorarbeit habe ich sicher selber geschrieben. Da kann ich mich noch an die Nächte erinnern. Und meine Masterarbeit wollte ich in dieser Sommerpause schreiben. Dann werde ich mir die entsprechende Zeit mal eine Auszeit nehmen und dann wirklich tagelang schreiben, aber mit der festen Absicht, das alles selbst zusammenzubringen.

Deutschlandradio Kultur: Und Ihre akademische Laufbahn schließen Sie mit einem Doktortitel nachher ab?

Jens Spahn: Also, ich hab bis jetzt das Bedürfnis zu einem Doktortitel noch nicht entwickelt. Und in diesen Tagen könnte man es sich ja eher abgewöhnen wollen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Spahn, wie wird man eigentlich Nachwuchspolitiker des Jahres?

Jens Spahn: Das ist ne gute Frage. Das Spannende in der Politik ist auch, frag ich mich manchmal, wie lange ist man eigentlich Nachwuchspolitiker, fängt das erst ab 60 an, dass man es nicht mehr ist...

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie sind 30.

Jens Spahn: Ich bin 30, aber ich bin schon seit über acht Jahren im Deutschen Bundestag, mache seit 15 Jahren Politik – mit großer Freude, mit viel Spaß. Aber ich glaube, das nehme ich auch, hat mich sehr gefreut, einfach als Anerkennung des Wirkens der letzten Jahre. Es war erstmals, dass ein Fachpolitiker so einen Preis bekommen hat als Gesundheitspolitiker. Und das macht mich schon ein Stück weit auch stolz auf die bis hierhin geleistete Arbeit und auch die Möglichkeit, Akzente mal zu setzen, was manchmal auch strittig ist, was manchmal auch Ärger bringt, aber auch Debatten befördert.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben es selber gesagt, 15 Jahre aktiv in der Politik schon unterwegs. 30 sind Sie jetzt. Kommt auch noch mal was anderes nach der Politik?

Jens Spahn: Ich würde es zwar nicht wie der Gesundheitsminister machen mit einer festen Zahl, er sagt ja, mit 45 will er aufhören in der Politik, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass irgendwann zur Mitte sozusagen des Lebens oder vielleicht auch etwas früher ich noch mal in eine andere Richtung gehe. Also, ich kann mir zumindest sicher nicht vorstellen, bis 67 oder länger in der Politik zu bleiben. Ich will auch gerne noch ein paar andere Aspekte im Leben kennenlernen. Aber bis hierhin macht's mir viel, viel Freude und ein paar Jahre möchte ich noch.

Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Jens Spahn: Gerne.