Peter Handke

Eine notwendige Provokation

Porträtfoto von Peter Handke
Der Schriftsteller Peter Handke im Jahr 2007. © AFP PHOTO / STR
Von Stefan Keim · 27.02.2016
Der Autor Peter Handke ist als scharfer Kritiker von gesellschaftlichen Entwicklungen bekannt. Sein neues Stück "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße" ist nun im Wiener Burgtheater zu sehen. Stefan Keim hat schon einmal reingelesen.
In diesem Stück ist nicht klar, wer Ich ist. Es gibt mindestens zwei, einen Ich-Erzähler und Ich, der Dramatische. In Sprache und Verhalten sind sie sehr unterschiedlich, manchmal verschmelzen sie. Dieses Ich lebt auf einer Landstraße, weitab von aller Betriebsamkeit. Sein Zuhause ist eine Ruine, die vielleicht mal eine Bushaltestelle oder auch eine Rinderbesamungsanlage war. Das Ich sehnt sich nach der Unbekannten von der Landstraße, einer Traumfrau, die seine Gefühle und Gedanken versteht. Es naht eine riesige Menschengruppe, Leute, die in Telefone sprechen, aus denen ihre eigenen Stimmen zurück schallen. Sie wollen nichts Böses und bemerken das Ich gar nicht, als es zwischen ihnen herum läuft und sie nachäfft. Das sind die "Unschuldigen", die – wie das Ich sie nennt – "Armee des Systems", die "einzige und letzte Weltmacht". Das Ich erklärt den Unschuldigen den Krieg, weiß aber nicht, wie es sie angreifen soll.
Peter Handkes Stück hat nur die Andeutung einer Handlung. In seinem Verlauf wechseln die Jahreszeiten. Im Frühling wird die Landstraße von den Unschuldigen eingenommen. Im Sommer kommt es zum Konflikt, und das Ich beschimpft die Eindringlinge als "Hundsfotte, Kassendiebe, Hirnschrott" und "tätowierte Schwimmlehrer". In Handkes Text wechseln Wut und Wehmut, melancholische Bilder und grimmiger Humor. Der Herbst schließlich bringt einen Dialog zwischen dem Ich und dem Häuptling der Unschuldigen. Die beiden schwelgen in Kindheitserinnerungen und kommen sich näher. Bevor sich im Winter die Landstraße auflöst und die Welt verblasst.

Eine Sprache voller literarischer Anspielungen

Peter Handkes Sprache steckt voller literarischer Anspielungen. Die Reden des Ich sind durchsetzt mit zum Teil parodierten Zitaten von Schiller, Goethe, Shakespeare und vielen anderen. Von "Freude, holder Niemandsfunken" bis "Frühling meines Missvergnügens." Auch die Unschuldigen schleppen einen enormen Bildungsschatz mit sich herum. Aber – so der Vorwurf des Ichs – sie entwickeln daraus "Argumente statt Ahnung". Die Begriffe und Denkweise des Ichs, das – zwar mehrfach gebrochen, aber doch erkennbar – Peter Handke repräsentiert, erinnern an die Romantik. Der Traum ist sein Ideal, das endgültige Weltvergessen. "Ihr redet und redet und seht nicht, wovon ihr redet", sagt das Ich. Eine typische Handke-Formulierung.
Als Hörspiel kann man sich diesen Text sofort vorstellen, für das Theater ist er eine Herausforderung. Die Regie muss entscheiden, ob sie die langen, wunderbar zu lesenden Beschreibungen – Regieanweisungen wäre das falsche Wort dafür – sprechen lassen soll. Dann verbietet es sich, die Bilder zu verdoppeln, gegen Handkes Sprache kämen sie kaum an. Ohne sie fehlen dem Text entscheidende Bestandteile. Handkes poetische Fundamentalopposition gegen eine auf Wirtschaftlichkeit aufgebaute Welt ist eine notwendige Provokation. Auf diesem sprachlichen Niveau ist sie in der zeitgenössischen Dramatik sonst nicht zu finden. "Ach, wie mehrheitenmüde ich bin!", seufzt das Ich.