Performance-Kult aus England

Wie "Forced Entertainment" die Theaterszene aufmischt

Die Kompanie "Forced Entertainment" spielt am 02.09.2013 in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck (Nordrhein-Westfalen) während der Fotoprobe das Stück von Tim Etchells und Tarek Atoui "The Last Adventures".
Eine Aufführung von "Forced Entertainment" bei der Ruhrtriennale 2013 © dpa / Caroline Seidel
Tim Etchells im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 20.12.2014
Der Theatermacher Tim Etchells gilt als Pionier der "Live Art". Mit seinem Projekt "Forced Entertainment" sorgt er seit 30 Jahren für produktive Unruhe auf den Bühnen der Welt. In "Rang I" erläutert er, was den Erfolg seiner Truppe ausmacht.
Als Tim Etchells im Jahr 1984 mit fünf weiteren Akteuren die Performance-Gruppe "Forced Entertainment" gründete, ahnte wohl keiner von ihnen, dass das Projekt noch 30 Jahre später Bestand haben würde. Etchells gilt bis heute als Pionier der "Live Art" - doch er ist nicht nur Mitbegründer und Kopf der Truppe, sondern auch Haus-Autor und Regisseur. Susanne Burkhardt sprach mit ihm für unsere Theatersendung "Rang I".
Susanne Burkhardt: Als Sie mit ihren Kommilitonen vor 30 Jahren nach dem Drama-Studium in Exeter "Forced Entertainment" gründeten – welchen Begriff von Theater hatten Sie da im Kopf?
Tim Etchells: Wir begannen als Theatergruppe, weil wir von einigen Dingen, die wir im Theater gesehen hatten, so begeistert waren, von gewissen Theatertourneen oder Aufführungen. Dabei wurde uns klar, dass man das Britische Theater neu erfinden musste. Man brauchte größere Herausforderungen, eine andere Beschäftigung mit Texten und der Rolle des Schauspielers. Wir wollten die Dinge verändern und dafür neue Wege finden. Auch heute im Jahr 2014 ist das britische Theater immer noch sehr auf den Text fokussiert, besessen von einem gewissen Naturalismus und sogenannten "gut gemachten" und gut strukturierten Stücken.
Burkhardt: Sie gelten als Pionier der "Live Art" – die nicht ohne direkten Kontakt zum Publikum funktioniert. Es geht dabei nicht mehr um Figuren, sondern vor allem um das Spiel, das jemand spielt – wodurch der Zuschauer darüber nachdenken muss, wie er sich dazu verhält. Ist das Publikum bei Ihnen immer auch Akteur?
Etchells: Ich denke schon. Unsere Einflüsse waren vielfältig. Als Inspiration diente natürlich das Theater, aber auch Musik, Kino, Performancekunst, Literatur. Eine Theateraufführung war für uns immer Hybridkunst. Und dann spielte für uns die Idee des aktiven Zuschauers immer eine wichtige Rolle. Nun sollte das Publikum nicht interaktiv eingreifen, herumrennen oder etwas tun müssen, aber wir stellten uns den Zuschauer immer als einen imaginierten Autor vor, der mental etwas zu tun hatte. Er sollte gewisse Handlungsstränge miteinander verknüpfen oder darüber nachdenken, was gerade geschah. In diesem Sinne war das Publikum für uns immer ein wichtiger Teil der Gleichung, ein "Mit-Denker" im Gegensatz zu einer Form des Theaters, in der man dem Zuschauer eine Botschaft verabreicht oder sagt, was er zu denken hat. Bei uns sollte das Publikum eher wie ein Pfadfinder agieren und die einzelnen Punkte miteinander verbinden, so dass ein Bild entsteht.
Burkhardt: 30 Jahre "Forced Entertainment" – wie hat sich Ihre Arbeit verändert im Laufe dieser 30 Jahre?
Etchells: Das ist eine sehr lange Zeit. Und keiner von uns glaubte, dass es so lange andauern würde. Es war auch nicht geplant. Wir dachten eigentlich immer nur von Projekt zu Projekt. Es ist nun einfach einmal so passiert, dass wir nie aufhörten, uns für einander zu interessieren und immer wieder neue Dinge zu entdecken. Das wollten wir dann auch fortführen. Wir schätzen uns glücklich, dass sich unsere ursprüngliche Ahnung bestätigte, dass es innerhalb unserer Gruppe zu einem wirklichen Austausch kommen könnte. Natürlich haben uns in den frühen Tagen auch einige Leute verlassen, aber eigentlich blieben wir als Gruppe relativ stabil zusammen. Ein wichtiger Faktor dabei ist gewiss, dass wir es uns erlaubten, dass sich die Arbeit verändert. Es gab auch immer radikale Veränderungen. Zu Beginn waren unsere Aufführungen sehr visuell, wir arbeiteten mit Bildern, mit einem Soundtrack. Dann verlagerten wir für eine Weile den Schwerpunkt mehr auf den Text, es wurde persönlicher, intimer. Und im Laufe der Jahre erlaubten wir uns einfach eine große Bandbreite. So konnten wir frei bleiben. Das war sehr wichtig, um nicht in die Falle zu tappen, dass wir uns nur noch wiederholen und den Erwartungen des Publikums entsprechen.
Burkhardt: Raum und Zeit spielen eine wichtige Rolle in Ihren Produktionen: Mal treten Sie in einer Turnhalle, mal in Kellern oder Unterführungen auf; manchmal dauern Ihre Performances – wie die "Durationales" – sechs bis zwölf Stunden. In welchem Verhältnis stehen Zeit und Raum?
Etchells: Der Raum, der Ort und die Zeit sind das Essentielle im Theater, in der Performance. Sie sind schon beim Schreiben sehr wichtige Faktoren. Wenn man einen Auftritt an einen gewissen Ort verlegt, oder gewisse Objekte dorthin platziert, werden einige Dinge erst möglich und andere sofort unmöglich. Wenn man also einen sehr langen Tisch mit vielen Stühlen aufstellt, hat man schon eine ganze Anzahl von Entscheidungen getroffen. Und wenn man ein winziges Haus zusammen mit Ästen und Zweigen zeigt, so hat man ebenfalls eine Entscheidung gefällt. Auch für das Publikum werden somit einige Dinge möglich und andere unmöglich. Dieser Prozess entwickelt sich bereits beim Schreiben. Und so kann man gewisse Reaktionen beim Zuschauer beeinflussen, zum Beispiel, wie man eine Intimität oder den Kontakt zum Betrachter herstellt. Es geht ja immer um das Verhältnis zwischen dem Publikum und den Darstellern.
Die Ambition besteht darin, dass Leute am Ende eines Raumes sich die Arbeit von Leuten am anderen Ende eines Raumes anschauen. In gewisser Weise ist das sehr einfach, auch wenn das Theater ein riesiger Apparat ist. Man teilt den Raum und verfolgt die Arbeit anderer Menschen indem man sie beobachtet. So einfach könnte Theater sein. Genau das ist uns wichtig.
Und mit der Zeit versuchen wir immer zu spielen. Sie ist eine Materie. Wir verlangsamen die Zeit oder beschleunigen sie, machen die Zeit zwischen uns spürbar oder lassen sie ganz verschwinden. Für mich ist es nicht wichtig, ob wir mit Bildern arbeiten oder einer Choreographie, mit einem Soundtrack oder mit Text. Das Wichtige ist, dass man die Zeit immer manipuliert, mit ihr spielt und arbeitet.
Burkhardt: Welche Rolle spielt die Zeit im Ablauf dieser Arbeiten? Was macht die Zeit mit den Darstellern und den Zuschauern?
Etchells: Diese Dauer einer Aufführung hängt von zwei Faktoren ab. Schon bei den Proben spürt man wie lang ein Stück wird und dann wird es schwer, eine gewisse Länge noch zu stoppen. Da entsteht dann eine gewisse Sucht nach einer Qualität, die man nicht mehr aufgeben möchte. Würde man diese Aufführung dann einkürzen und den konventionellen Theaterstrukturen anpassen, dann hätte ich das Gefühl, der Arbeit Gewalt antun. Man erreicht ja einen gewissen Fluss, ein Feeling und es würde einfach falsch sein, das zu kürzen. Wir müssen nicht alles in 1 ½ oder 2 Stunden pressen. Man kann auch etwas schaffen, das 12 oder 24 Stunden andauert. Es funktioniert zwar anders aber was hält uns eigentlich auf? Und so entstand für dieses Festival dann zum ersten Mal eines unserer längeren Stücke.
Burkhardt: Wie entwickeln "Forced Entertainment" ihre Stoffe? Manche klingen wie ein Wissensquiz oder ähnliche Formate, mit Fragen wie: "Wie viele Narben hast Du?" oder "Wo warst du letzte Nacht?" In "Speak Bitterness" gibt es stundenlange Schuldbekenntnisse, wie zum Beispiel „Wir haben einen Völkermord begangen" oder "Wir haben uns 13-mal hintereinander 'Stairway to Heaven' angehört". Wie entstehen diese Fragen, diese Themen?
Etchells: Wir beginnen oft mit bruchstückhaften Ideen. Das kann Sprache, ein Kostüm aber auch eine ganz spezielle Musik sein oder ein Ort an dem wir spielen möchten. Und dann probieren wir in den Proben einfach alles aus. Wir legen also zunächst in einem Raum des Theaters alles auf den Tisch ohne groß darüber nachzudenken. Von dem Punkt an, macht man sich immer mehr Gedanken, bis alles kurz vor der Explosion steht. Wenn man dann noch Glück hat, ist am Ende auch eine Show mit dabei.
Burkhardt: Ein Kritiker hat sie mal als Erfinder der 'standup tragedy' bezeichnet – empfinden Sie das als Kompliment?
Etchells: Das gefällt mir, denn es enthält diese Spannung zwischen der "standup comedy", der Unterhaltung, dieser sehr direkten Art sich einzubringen aber auch der Tragik und der Komik. Das ist sehr wichtig.
Burkhardt: Nach Friedrich Schiller ist der Mensch nur da ganz Mensch, wo er spielt. Das wird gern als kindlich abgetan. Ist Spielen für Sie ein Lebensmittel?
Etchells: Das ist es schon. Wir organisieren uns die Welt neu, durch unser Spiel. Dieses Spielen kann auch sein, dass man sich mit Freunden betrinkt und einfach mal Blödsinn macht. Auch das ist eine Möglichkeit, einmal aus den Parametern auszubrechen in denen wir uns normalerweise bewegen. Das braucht jeder einmal und es liegt auch eine Kraft der Veränderung darin. So lassen sich auch andere Szenarien freischalten.
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