Perfomance-Künstlerin Marina Abramović

"Ich bereue gar nichts"

Marina Abramovic bei der Präsentation ihrer Ausstellung 'Holding Emptiness' in Malaga, Spanien, 23. Mai 2014
Die serbische Performancekünstlerin Marina Abramovic © picture alliance / dpa / Jorge Zapata
Marina Abramović im Gespräch mit Gabi Wuttke · 17.11.2016
Marina Abramović ist die wohl radikalste Performancekünstlerin der Welt. Häufig geht es bei ihr um Schmerz, darum, die Grenze auszuloten, was der Körper - und das Publikum - aushalten. Jetzt hat sie ihre Autobiografie veröffentlicht.
Marina Abramović ist die berühmteste Performance-Künstlerin der Welt: Mit ihrer Retrospektive "The Artist is Present" 2010 im Museum of Modern Art in New York hat sie die Performance-Kunst für das große Publikum salonfähig gemacht. Damals kamen 750.000 Menschen, um zu sehen, wie Abramović 79 Tage lang auf einem Stuhl sitzt, ihr gegenüber jeweils eine Person aus dem Publikum. Acht Stunden saß sie täglich im Museum, ohne zu essen, ohne auf die Toilette zu gehen.

Grenzen ausloten

Von Anfang an waren die Performances der heute 69-Jährigen darauf ausgerichtet, Grenzen auszuloten: die des Kunstbetriebs, die ihres Körpers - und die Grenze dessen, was das Publikum verträgt. So fügte sich Marina Abramović in ihren frühen Performances selber Schmerzen zu oder forderte das Publikum auf, ihren Körper zu traktieren. Sie peitschte sich, ritzte sich die Haut, rannte nackt gegen eine Wand.

72 Objekte für das Publikum

In den frühen 1970er-Jahren sei es vor allem darum gegangen, die Grenzen der Körperkunst auszutesten, sagte Marina Abramovic´ im Deutschlandradio Kultur. "Deshalb wurde nicht nur ich, sondern auch viele meiner Kollegen sehr stark kritisiert, dass wir Masochisten seien, dass wir Exhibitionisten seien und dass wir nur das Publikum schockieren wollten." Deshalb habe sie das Projekt "Rhythm 0" gemacht, bei dem es 72 verschiede Objekte gab, die das Publikum an ihr benutzen konnte. "Da gab es zum Beispiel auch eine Pistole, die geladen war", sagte Abramovic´. "Ich wollte damit zeigen, dass nicht ich aggressiv bin, sondern das Publikum dazu die Möglichkeit hat." Sie sei zu dem Schluss gekommen, dass man dem Publikum mit verschiedenen Werkzeugen das Schrecklichste hervorlocken kann, aber eben auch das Beste - je nach Werkzeug.

Teilhaben an der Live-Energie

Performances seien eine immaterielle Kunstform, sagte Abramovic´. Die Frage sei, wie sie das Bewusstsein verändern könnten und wie man die Welt dadurch anders wahrnehmen könne. "Ich bereue gar nichts", sagte die Künstlerin. "Jede einzelne Arbeit war eine Erfahrung, die wieder zu einer neuen Arbeit geführt hat. Das ist eine gerade Linie bis hier ins Jetzt hinein." In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren seien vielleicht bis zu 40 Leuten im Publikum gewesen, heute dagegen seien es hunderttausende von Leuten, darunter ganz normale Menschen und nicht nur Künstler. "Die kommen, fühlen sich angezogen von diesen Performances, weil es eine gewisse Live-Energie hat, die ihnen etwas bringt." Das Publikum wolle das nicht nur ansehen, sondern Teil davon werden. "Dieses Publikum wird dadurch auch zu meiner Arbeit." Deshalb sei dieser Weg so richtig gewesen.

Das Interview im Wortlaut:

Gabi Wuttke: Marina Abramović, 1946 in Jugoslawien geboren, die Eltern ehemalige Partisanenkämpfer an Titos Seite. Ein Vater, der seine Tochter ins tiefe Wasser warf, um sie das Schwimmen zu lehren, eine Kindheit, die sie lehrte, was Zorn, Angst und Schmerz, aber auch Disziplin sind. Das erzählt die radikalste Gegenwartskünstlerin in ihrem Buch "Durch Mauern gehen", das gerade erschienen ist. Guten Abend, Frau Abramovic, wo in den USA sind Sie?
Marina Abramović: Nice to hear you, I’m in San Francisco.
Wuttke: Hat der Zorn Ihrer Kindheit sich in Ihrer Kunst inzwischen aufgelöst?
Abramović: Absolut, deshalb habe ich auch meine Memoiren geschrieben, und wenn ich zurückblicke, tue ich das nicht mit Wut oder Zorn. Meine Kindheit hilft mir dabei, in meiner Arbeit stärker zu werden.
Wuttke: Sie haben sich wochenlang unbeweglich den Blicken anderer Menschen ausgesetzt, Sie forderten Menschen auf, über Grenzen zu gehen und Sie körperlich zu verletzen. Was machen Sie mit diesen Erinnerungen und mit Ihrer Wirkung auf das Publikum in Ihrer Erinnerung?
Abramović: Wenn man solche Fragen stellt, dann klingt das erst mal sehr dramatisch. Aber in den frühen 70er-Jahren war das etwas anders, da ging es in der Körperkunst darum, was Subjekt, was Objekt ist, und die Grenzen der Körperkunst auszutesten. Deshalb wurden nicht nur ich, sondern auch viele meiner Kollegen sehr stark kritisiert, dass wir Masochisten seien, dass wir Exhibitionisten seien oder dass wir nur das Publikum schockieren wollten. Deshalb hatte ich auch ein Projekt gemacht, dass ich "Rhythm 0" nannte.
Dabei gab es 72 verschiedene Objekte und daneben lag ein Statement, eine Erklärung, dass man all diese Dinge an mir benutzen könnte, an meinem Körper. Da gab es zum Beispiel auch eine Pistole, die geladen war. Und ich wollte damit zeigen, dass nicht ich aggressiv bin, sondern das Publikum dazu die Möglichkeit hat. Ich bin also zu dem Schluss gekommen, dass man, wenn man dem Publikum bestimmte Werkzeuge gibt, man das Schrecklichste aus ihm hervorlocken kann, und wenn man ihm aber die richtigen Werkzeuge gibt, dann kann man auch das Beste aus ihm hervorrufen. Und das versuche ich jetzt zu tun.

Die Zeit finde ich sehr interessant

Wuttke: Das sind aber eben auch Teile Ihrer persönlichen Erinnerungen. Was bedeutet für Sie eigentlich Zeit?
Abramović: Die Zeit finde ich sehr interessant. Mich fasziniert die Idee der Zeit, wie sie vergeht, von der Gegenwart, von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Ich glaube – und das ist mir gerade sehr wichtig –, dass Langzeitperformances diese Frage nach der Zeit am besten beantworten können. Langzeitperformances handeln von der Gegenwart und wenn man in der Gegenwart liegt, dann existiert die Zeit nicht. Das Hier und Jetzt ist die einzige Realität, die wir haben.
Wuttke: Warum haben Sie dann gerade jetzt Ihre Autobiografie geschrieben?
Abramović: Weil ich diesen Monat 70 Jahre alt werde und ich etwas Inspirierendes schreiben wollte, nicht nur für Künstler, sondern für das allgemeine Publikum. Ich wollte zeigen, dass man seine Träume nicht aufgeben soll, und damit auf mein schwieriges Leben zurückblicken, um zu zeigen, dass ich überlebt habe gegen alle Widrigkeiten.
Wuttke: Lassen Sie uns trotzdem noch mal auf Ihr schwieriges Leben schauen! Sind Schmerz und Angst für Sie absolute Gefühle oder haben Sie sich über die Jahrzehnte in Ihrer Arbeit verändert, für Sie?
Abramović: Lassen Sie uns zuerst über den Schmerz reden. In meiner Arbeit werde ich sehr inspiriert von alten Kulturen und den Ritualen, die oft mit extremen Schmerzen zu tun haben. Wir haben uns nie wirklich gefragt, warum machen die das, warum nähern sie sich diesem Schmerz auf eine solche Art und Weise an? Und es gibt ein paar einfache Dinge, die dahinterstehen. Einmal die Angst vor dem Leid, die Angst vor der Sterblichkeit und die Angst vor dem Schmerz. Und in meinen Performances habe ich das inszeniert mithilfe der Energie des Publikums, das mache ich zu Hause natürlich so nicht, aber die Energie des Publikums ist etwas sehr Starkes, das ich dafür benutzen kann, um zu zeigen, dass, wenn ich es schaffe, mit meiner Angst vor dem Schmerz und vor dem Leiden fertigzuwerden, dann können das auch andere schaffen.
Und das ist der Kern der Botschaft meiner Performances. Mein Verständnis davon war auch, dass es leichter ist, mit der Angst vor dem physischen Schmerz fertigzuwerden, als mit der Angst vor einem emotionalen Schmerz. Das ist so viel schwieriger. Die Hauptsache bei den Performances ist ja auch, dass es so eine immaterielle Kunstform ist, dass die Frage sich stellt: Wie kann so etwas unser Leben verändern, wie kann das unser Bewusstsein verändern und wie können wir die Welt anders wahrnehmen dadurch?

Jede Arbeit war eine Erfahrung

Wuttke: Frau Abramovic, jeder, der eine Ihrer Performances live miterleben durfte, wird sie nie wieder vergessen, eben weil Sie den einzelnen Menschen mit Angst und Schmerz konfrontieren und ihm einen Spiegel vorhalten. Gibt es etwas rückblickend, wo Sie sagen würden, das bereue ich?
Abramović: Nein, ich bereue gar nichts. Jede Arbeit war eine Erfahrung, die wieder zu einer neuen Arbeit geführt hat, und das ist eine gerade Linie bis hier ins Jetzt hinein. Und wenn man sich die Vergangenheit anguckt der 70er- oder der späten 60er-Jahre, wenn da 20 bis 40 Leute im Publikum waren, dann waren das sehr viele Menschen, und jetzt dagegen ist das was ganz anderes, da sind Hunderttausende von Leuten, und nicht nur Künstler, sondern ganz normale Leute, die mit dem Kunsthintergrund überhaupt nichts zu tun haben oft. Und die kommen, fühlen sich angezogen von diesem Performances, weil es eine gewisse Live-Energie hat, die ihnen etwas bringt. Und sie wollen es nicht nur ansehen, man wird Teil davon, wenn man dabei ist. Dieses Publikum wird dadurch auch zu meiner Arbeit und das braucht Zeit, um so was zu machen, das braucht Arbeit, da muss man Energie reinstecken. Und deshalb war dieser Weg wichtig so, wie ich ihn gegangen. Anders wäre es nicht möglich gewesen. Jede Performance führte sozusagen zur nächsten.
Wuttke: Ihr Buch ist als Autobiografie ausgewiesen. Das ist also keine Performance?
Abramović: Das Buch ist keine Performance, es sind Memoiren, das ist, was es ist. Von dem Alter, als ich vier Jahre alt war, bis jetzt ist das meine Lebensgeschichte. Und ich widme es meinen Freunden und meinen Feinden und das war alles.

Ich möchte all die Mauern durchbrechen

Wuttke: Durch welche Mauer werden Sie als Nächstes gehen?
Abramović: Oh, ich möchte all die Mauern durchbrechen, die vor mir sind. Viele stoppen ja vor der Mauer und halten davor an, aber für mich sind Mauern erst der Anfang, um durchzugehen. Und das bedeutet auch, dass ich damit mit der Angst aus meiner Kindheit umgehe, mit der Beziehung zu meinen Eltern, mit meiner Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit meiner Beziehung zu Ulay, mit der Chinesischen Mauer, auf der ich gegangen bin, mit meiner Hochzeit, mit meiner Heirat, meiner Ehe, mit den Enttäuschungen, mit den Mauern der Scham, des Unglücklichseins umzugehen, mit meinem Wunsch, aus diesem Planeten zu wachsen. Wenn es im Kosmos eine Raumfähre gäbe, ins Weltall, dann würde ich die nehmen, um zu gucken, ob es da oben weitere Mauern gibt, die ich durchbrechen kann.
Wuttke: Frau Abramović, was ist für Sie das Wichtigste beim Schreiben Ihrer Biografie gewesen?
Abramović: Jetzt, wo ich meine 70er erreiche, habe ich eigentlich nur noch den Wunsch gehabt, lustig zu sein, wirklich etwas Lustiges zu schreiben und die lustige Seite des Lebens in den Vordergrund zu stellen und mich vor Lachen zu kugeln. Die lustige Seite des Lebens ist das Wichtigste, man braucht den Humor, um zu überleben, sonst ist es zu schwer. Und zu meinem Geburtstag lade ich jetzt alle ein, auch meinen Exmann Paolo, alle möglichen Leute, alle sollen da sein, denn das ist der Moment des Vergebens und ich möchte, dass alle dabei sein werden. So, ich hoffe, Sie können aus meinen Erfahrungen lernen, denn in dem Buch geht es ja vor allem um die Freiheit und dass man aus seiner alten Haut eine neue schaffen kann. – All right, that’s it, kids, thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Marina Abramović: Durch Mauern gehen
Autobiografie, Luchterhand-Verlag, 28 Euro.

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