Paulinchen, Friederich & Rainald

Rainald Grebe inszeniert den "Struwwelpeter"

Struwwelpeter - Nach Dr. Heinrich Hoffmann von und mit Rainald Grebe (Uraufführung 4.6.2016)
Struwwelpeter - von und mit Rainald Grebe (Uraufführung 4.6.2016) © Schauspiel Frankfurt / Birgit Hupfeld
Von Anke Petermann · 03.06.2016
Das zündelnde Paulinchen, der renitente Daumenlutscher, der chaotische Zappelphilipp. Kein unvorsichtiger Moment ohne grausame Strafe oder Konsequenz. Obwohl der Frankfurter Kinderarzt und Psychiater Heinrich Hoffmann oft als "schwarzer Pädagoge" verkannt wird, fasziniert sein 170 Jahre alter "Struwwelpeter" immer noch.
Der Feldforscher fürs Skurrile ist wieder in Frankfurt am Main unterwegs. Er stößt auf Goethe – nicht bizarr genug. Auf "Ebbelwoi" – zu sauer. Und auf den "Struwwelpeter". Widerspenstig, verrückt – und genau richtig. Anders als bei der Revue über die beiden deutschen Frankfurts von 2014 führt Rainald Grebe beim "Struwwelpeter" 2016 nicht nur Regie, er singt und spielt auch mit.
"Beim Spaziergehen auf den Gassen
Von Mama sich führen lassen …"
"Ich hab einen Stoff gesucht, der mit Frankfurt natürlich wieder zu tun hat, weil ich doch immer so regional verhaftet bin. Da kam ich drauf und hab gedacht, es wurde bestimmt schon mal gemacht, weil es ja Frankfurt ist. Aber es wurde noch nicht gemacht am Theater hier, am Schauspiel, große Bühne oder so. Weder ‚Shockheaded Peter' noch irgendeine andere Bearbeitung. Dann war ich ganz hellhörig und habe ich gesagt, dann mach ich das."
"Shockheaded Peter", die Struwwelpeter-inspirierte Junk-Oper britischer Theatermacher und der Kult-Band "The Tiger Lillies", gastierte bis vor Kurzem in Hannover. Derzeit läuft sie in Graz, kommt demnächst nach Wiesbaden und gehört seit 1998 zu den am häufigsten aufgeführten Musicals hierzulande.
Aber Grebes "Struwwelpetriade" soll etwas ganz anderes werden. Neugierig ist der gebürtige Kölner und Wahl-Berliner nicht nur auf regionalen Stoff, sondern als Wahl-Ethnologe vor allem auch auf regionale Menschen, auf deren Geschichte und Geschichten. Das haben in den vergangenen Wochen die Nachwuchssänger des Frankfurter Opernchors genauso zu spüren bekommen wie die Laiendarsteller im Senioren-Alter, die Grebe gecastet hat.
"Wir haben halt erst einmal so eine Art Interview gemacht. Da hat der uns so abgefragt: mit Büchern und was wir alles so lesen. Und ich bin eigentlich schon sehr froh, dass ich genommen wurde, weil: Ich hab mir immer schon gewünscht zu schauspielern. Weil: Ich will auch Schauspielerin werden."

Bekannt aus Funk und Fernsehen, aber ohne Allüren

In einem Ost-Frankfurter Industriegebiet wartet Lea an der offenen Tür einer schmucklosen Halle darauf, dass die Probe anfängt - die letzte, bevor das Ensemble auf der großen Bühne im Schauspielhaus weiterprobt.
"Ich habe halt ein Lied vorgeschlagen im Kreis: Jungs gegen Mädchen. Das ist halt so ein Lied von 'Bibi und Tina'."
Auf der großen, leeren Proben-Bühne legt die Elfjährige gemeinsam mit ihrer Freundin Fabiana los.
"Jungs gegen Mädchen. Mädchen gegen Jungs. Jungs sind wie Wasser, keine Farbe, kein Geschmack, wie ein Witz ohne Lacher, denke ich richtig drüber nach."
"Ja gut, könnt ihr euch das schön draufschaufeln? – Das klappt dann schon."
Rainald Grebe trägt Dreitagebart, ausgebeulte Jeans, hellgrünes Hemd mit zerschlissenem Kragen. Den Weg zur Probe im Industriegebiet an der Ausfallstraße nach Hanau fährt der Mittvierziger mit der Straßenbahn. Bekannt aus Funk und Fernsehen, aber ohne Allüren. Leas Idee findet er gut, entwickelt sie aber weiter. Die Elfjährige gluckst.
"Jetzt sollen das halt die alten Leute singen. Und - das ist halt sehr komisch, weil das eigentlich nur Junge singen können. Ja, das ist lustig."
Von wegen - nur Junge können das. Mecky Hildebrandt ist 70 Jahre älter als Lea. Gemeinsam mit ihren Darstellerkollegen im Rentenalter legt sich die weißhaarige 81-Jährige beim Bibi-Tina-Rap voll ins Zeug, noch ohne Headset und Verstärker.
"Wechsel mal dein Deo und dann ab durch die Mitte."
"Überhaupt ist alles retro, wie du rappst."
"Geht so."
"Jungs gegen Mädchen."
"Nein, Mädchen gegen Jungs."
"Mecky, es ist auf dem Weg. Schön tight rappen. Auf 'Sie meinen'."
"Ja, ja."
"Ist kein Spaß hier."
"Da müssen die Glasaugen springen!"
"Ja, eben."

"Da ist was Expressionistisches drin"

Wenn der Regisseur will, dass Oldies wieder zu Kindern werden, müssen die Glasaugen springen, frotzelt Maria Niesen.
"Also, ich bin 1948 geboren, bin also eine reife, ältere Dame, und alles, was einen zum Lernen bringt, ist gut. Was Neues mal wieder."
Die "reife ältere Dame" ist ein stämmiger Typ und gut gelaunt. Kinnlange grau-weiße Haare und Brille mit Silberrand, aber kein Glasauge.
"Was wusste ich von Rainald Grebe? Der ist ab und zu mal über das Fernsehen geflimmert. Und zwar unter der falsch verkauften Schublade Comedy. Weil, das ist ja mehr Poesie als Comedy, was er macht. Und von all dem Quatsch, den man da sieht, vergess ich immer alles. Aber er ist mir als Figur und als Name präsent geblieben. Das heißt, er muss mich sehr beeindruckt haben."
In der Arbeit mit dem Autor und Regisseur fasziniert die Wahl-Frankfurterin aus Regensburg, welche Vielschichtigkeit Grebe in den "Struwwelpeter" packt.
"Da ist was Expressionistisches drin, was Poetisches drin. Da ist natürlich auch der Aufklärer drin. Der Soziologe ist drin. Man merkt den Theatermann. Aber es ist eine neue Sprache, weil es so viele verschiedene Facetten sind. Ich glaub, der Puppenspieler ist auch drin."
"Ich habe ja Puppenspiel studiert und habe dann im Studium das schon mal gemacht, als kleine Inszenierung mit Gummipuppen- vor 20 Jahren."
Also Mitte der 90er-Jahre an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch".
"Und das hatte mich sehr interessiert damals – auch die Tücken, auch was liegen geblieben ist, hat ja nicht alles geklappt - wie immer. Da dachte ich, das ist interessant, das jetzt mit der zusätzlichen Anreicherung und Erfahrung noch einmal zu machen."
Ob er eine Szene probt oder nur Material sammelt, das er später wieder verwirft - das lässt sich bei dem Berufsregisseur und Hobby-Soziologen nicht immer unterscheiden. Fest steht: Die Kindheitserinnerungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sind Grebe für seine "Struwwelpeter"-Fassung wichtig.
"Ich heiße Maria, ich kriege Weihnachten jedes Jahr ein Schaukelpferd. Das wird jedes Jahr neu dekoriert, kriegt immer einen neuen Schwanz und eine neue Mähne, ha! Und ich freue mich jedes Jahr wieder, wahnsinnig."
Zu Weihnachten anno 1844 bekam der dreijährige Carl Hoffmann ein Bilderbuch, von Vater Heinrich selbst gezeichnet und gereimt. "Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren" hatte Hoffmann Senior draufgeschrieben.

"Eine Zeitmaschine anwerfen"

1845 veröffentlichte der Arzt und Gelegenheitsliterat zunächst sechs Episoden unter dem Pseudonym "Reimerich Kinderlieb". Den strubbeligen Knaben mit den langen Fingernägeln machte Hoffmann erst später zum Titelhelden, weil die Kinder - so erinnert er sich im Nachhinein - immer nach dem Bilderbuch mit dem Struwwelpeter verlangten.
Ende 1859, 14 Jahre nach der Erstauflage, zeichnet Hoffman eine zweite, verfeinerte Fassung: den heute bekannten "Struwwelpeter", mit zehn Geschichten unter dem vollen Autorennamen und mit dem Ungekämmten als Titelfigur. "Es ist so", kommentiert Rainald Grebe mit Blick auf das Entwickeln seiner "Struwwelpetriade",
"… dass wir ja so eine Zeitmaschine anwerfen mit dem Buch auch. Und mit den ganzen Biografien, die das auch alle kennen. Also, es ist ja ein Volksbuch. Und es bietet sich schon an, dass man da eine Zeitreise macht. Und insofern kam dann die Idee mit Jung-und-Alt-auf-die-Bühne-Bringen, und das Tauschen-Lassen auch, ja."
"Dann geht mal bitte in eure Startlöcher und dann …"
Jens-Karsten Stoll, musikalischer Leiter sowohl der Frankfurt-Revue als auch beim Struwwelpeter, setzt sich ans Piano.
"Ick bin Stolle und liebe Klaviere."
Die älteren Laien-Darsteller wechseln sich ab beim Singen über die Verkehrte-Welt-Episode aus der "Struwwel"-Sammlung.
"Es zog der wilde Jägersmann
Sein grasgrün-neues Röcklein an.
Nahm Ranzen, Pulverhorn und Flint'
Und lief hinaus in’s Feld geschwind."
"Es ist ja nicht nur ein Buch von 1844 oder so, sondern auf das Buch folgten irgendwie 50 oder 100 oder 1000 andere Bücher, die sich darauf beziehen. Es ist also wie so ein Startschuss für eine Stoffgeschichte auch, auf der wir jetzt alle sitzen hier, in unserem 'Struwwelpeter'-Haus oder Museum."

Etliche Bücher folgen dem "Struwwelpeter"

Einen winzigen Ausschnitt aus der gigantischen gedruckten Rezeptionsgeschichte hat Rainald Grebe im Struwwelpeter-Museumsshop gekauft und geliehen: Auf dem langen Holztisch hinten im Probenraum liegen "Struwwel"-Bücher verstreut - die psychoanalytische Deutung des "Struwwelpeter" und das Cartoon-Buch vom "Cyber-Peter", moderne Kindergeschichten übers exzessive Computer-Spielen und Ins-Smartphone-Starren. Eine von mehreren "Struwwel"-Hitler-Parodien hat der Regisseur dazugelegt - anti-nationalsozialistische Kriegspropaganda,
"… den Schicklgruber, genau."
Außerdem den amerikanischen "Motor Car-Peter" von 1909, der die Unsitten zeitgenössischer Autofahrer vorführte, britisch alias: "Petrol Peter". Den "Burger-Paul", ein modernes Traktat über Jugendprobleme von "Amok-Lukas" bis "Alkopop-Laura".
"Und den 'Schwuchtel-Peter', und wie sie alle heißen, also, es ist schon erstaunlich, was das ausgelöst hat, dieses kleine Buch."
Was das kleine Buch, sein Autor und das Museum im Westend für Frankfurter bedeuten, kann vielleicht am besten eine Zugewanderte beschreiben: Maria Niesen, Immigrantin aus der Oberpfalz.
"Die Frankfurter haben ein paar so Heiligtümer. Und der Hoffmann als alter Paulskirchen-Parlamentarier und - für seine damalige Zeit - Reformarzt in der Psychiatrie – der hat ja das erste Krankenhaus für Irre - hat man damals gesagt – gegründet, wo man nicht nur weggesperrt hat, sondern behandelt mit Spielen, mit Wassertherapie, mit allem Möglichen. Also, er hat einen neuen Blick auf die Geisteskrankheit eröffnet. Und gleichzeitig auch einen neuen Blick auf die deutsche Parlamentarismus-Idee. Und da muss man sagen - Frankfurt vergisst ja alles sehr schnell wieder, aber diese Kernpunkte, mir waren mal Freie Reichsstadt, mir waren mal Paulskirchen-Parlamentsstadt, da san die Frankfurter dann schon stolz drauf, und da gehört hundertprozentig das 'Stuwwelpeter'-Museum auch dazu."

Ein internationaler Bestseller

Auch Rainald Grebe recherchiert hier, in der Dauerausstellung über ein 170 Jahre altes Bilderbuch. So deutsch, wie es deutscher kaum geht, könnte man meinen. Und dennoch - mit einer Auflage in zweistelliger Millionenhöhe weltweit - ein internationaler Bestseller. Fast so international wie die Sieben- und Achtjährigen der Frankfurter Fröbel-Grundschule, die im zweiten Stock des Struwwelpeter-Museums in Bücherkisten und auf Bilderbuch-Covern an der Wand nach ihrer Muttersprache suchen. Museumsleiterin Beate Zekorn assistiert dabei.
"Das da unten ist kroatisch …"
"Nein, der Šešerjak ist sorbisch, aber Kroatisch haben wir auch, hier: Janko Raščupanko, das ist der kroatische. Was kannst du noch?"
"Türkisch."
"Türkisch ist hier der Savruk-Peter, der ist hier auch mit drin, genau. Was kannst du?"
"Spanisch."
"Spanisch: hier ist Pedrito el Greñoso. Hab‘ ich das richtig gesagt? Pedro Melenas gibt’s auch noch. Was kannst du?"
"Deutsch, Schweizerdeutsch."
"Schwyzerdütsch – das ist hier drüben drin. Aber da heißt er auch einfach 'Struwwelpeter'. Aber es gibt ihn in schwyzerdütschen Dialekten, einen Bern-Dütschen, es gibt ganz viele Schweizer 'Struwwelpeter'."
Der "Struwwelpeter" - übertragen in etwa 80 deutsche Dialekte und 45 Sprachen weltweit, darunter Chinesisch und Japanisch, Kreolsprachen und Afrikaans. Dass der verwilderte Peter ein "Struwwel" und kein "Strubbel" ist, verrät seine Herkunft aus dem Hessischen. Zwei bedauerliche Lücken stellen die Frankfurter Grundschulkinder fest: kein Struwwelpeter auf Persisch und keiner auf Albanisch.
"Da müsstest du übersetzen."
Eine Aufgabe für kleine Sprachforscher.
Kinder im Struwwelpeter-Museum in Frankfurt am MAin.
Stöbern in der Strubbel-Villa© Struwwelpeter-Museum Frankfurt
Das "Struwwelpeter"-Museum, dieses knallrote viergeschossige Haus, wirkt im noblen, ordentlichen Frankfurter Westend selbst wie eine struwwelige Villa Kunterbunt. Vor allem dann, wenn sich tagsüber ein halbes Dutzend Kita-Gruppen und Schulklassen die Klinke in die Hand geben und abends noch eine Ausstellungseröffnung ansteht.
Im "Struwwelpeter"-Museum ist fast alles zu sehen und zu hören, was von, über, an und gegen Heinrich Hoffmann geschrieben, gezeichnet und komponiert wurde. Über das knarrende Parkett schlendert man vorbei an alten Handschriften und Fotos, an Bilderbuchausgaben und kulturgeschichtlichen Erklär-Tafeln über kuriose Haarwuchsmittel, gefährliche Zündhölzer und frühe Flugpioniere. Und jeder Besucher bringt eine eigene Struwwelpeter-Lesart mit, zumeist eine ambivalente. Juliane und Julius, acht Jahre alt, finden die Titelfigur mit der Lockenmähne und den langen Krallen:
"Witzig und hässlich und schrecklich."
"Gut."
"Was gefällt dir?"
"Seine strubbeligen Haare."
"Hättest du auch gern solche?"
"Ja."
"Was wäre cool daran?"
"Könnten Schlangen in mich einziehen. Ein Nest."
Ein Stockwerk höher, im Theater-Raum des Museums, hängen gelb-rot-grüne Struwwelpeter-Kostüme und Lockenperücken. Hier dürfen Kinder den Titelhelden und die anderen Figuren nachspielen. Wenn sie das tun, passiert Unerhörtes.
"La-la-la-la!"
Kinder im Struwwelpeter-Museum in Frankfurt am Main.
Wilde "Struwwel"-Kinder© Struwwelpeter-Museum
Die Zweitklässlerinnen Caroline und Tatjana verwandeln sich in wilde "Struwwel"-Kinder. Laut singend und stampfend kommen sie aus der Schule.
"So und dann kriegen wir so die Hausaufgaben – l-l-l – fertig – l-l-l, wir machen einfach so kriggel-kraggel, so."
Das rebellische Gekritzel der beiden Siebenjährigen mündet in eine hingebungsvolle Papier-Zerknüll-Orgie, die anderen Kinder halten sich beim Zuschauen die Bäuche. Sobald sie das Struwwelpeter-Kostüm übergestreift haben, entdecken auch stille Mädchen ihre aufmüpfige Seite, beobachtet Beate Zekorn.
"Das ist absolut typisch, ja. Das ist einfach dieses lustvolle Als-Struwwelpeter-darf-man-alles. Da sieht man eben auch, was sie beschäftigt gerade: Hausaufgaben - ist so ein Stressthema, soll ordentlich aussehen, und da kann man es zerknüllen. Ich glaube, da bietet der ‚Struwwelpeter‘ eben die Projektionsfläche, diesen Frust loszuwerden."

"Schon ein bisschen grausam."

Projektionsfläche für Frust, Rebellion und Tagtraum, Katalysator für Angst und lustvolles Gruseln, Kitzel für die Lachmuskeln außerdem. In dieser Mischung liegt vermutlich das Erfolgsgeheimnis des "Struwwelpeter". Nichts, was Biedermeier-Pädagogen gestern und heute begeistern kann.
"Ja, für die Pädagogen der Hoffmann-Zeit war der ‚Struwwelpeter‘ ein Gräuel, vor allem, weil diese Figur sich nicht bessern muss. Dass er also mit seinem Widerstand durchkommt, und das durfte eben überhaupt nicht sein. Da wurde in Kritiken gefordert, da müsse jetzt noch ein gebesserter Struwwelpeter daneben gestellt werden, und in vielen der Nachfolge-Bücher, die dann ja gleich erschienen, sieht man genau das eingelöst, da bekommt Struwwelpeter dann mit riesigen Heckenscheren und Sägen Haare und Nägel geschnitten. Und Hoffmann hat sich dagegen aber ganz offensichtlich verwehrt. Er hätte die Chance gehabt, in dieses zweite Struwwelpeter-Manuskript nach 14 Jahren einen kurzhaarigen Struwwelpeter reinzubringen - nein, er hat es nicht gemacht, er hat ihm bodenlange Haare gezeichnet und einen kleinen Denkmalsockel. Und ich glaube, das ist sein Denkmal für das erfolgreich rebellische Kind."
Der Struwwelpeter bleibt im wahrsten Wortsinn ungeschoren. Doch der Suppen-Kaspar siecht dahin, und Paulinchen verbrennt.
"Schon ein bisschen grausam. Jetzt als ich eben durchgegangen bin mit dem Hans-guck-in-die-Luft und dem Mädchen, das zündelt,"
"Paulinchen",
"Paulinchen, genau, da dachte ich am Ende auch so, hoppla, und dann ist sie am Ende tot, und die Asche liegt da, und die Katzen weinen, das habe ich als Kind gar nicht verstanden."
"Das sind ja alles Kinder, die da sterben."
"Ja. Genau."
"Das ist schon sehr brutal",
… meinen Vanessa Zieres und ihre Schwester, die gemeinsam mit ihrer Mutter die "Struwwelpeter"-inspirierte Bilder-Ausstellung des Frankfurter Malers Franz Konter im Museum besuchen.
"Als Kind fand ich es schon irgendwie grausam. Es war so widersprüchlich. Es hat mir gefallen, und trotzdem fand ich es irgendwie schrecklich. Ich hab es immer wieder angeguckt, und meine Mutter hat immer mal gesagt: Siehst du, so ging es dem Suppen-Kaspar. Und sie hat es dann so ein bisschen versucht, als Drohung darzustellen."
Klipp und klapp, Daumen ab - der Drohgestus, mit dem Erwachsene die Bildergeschichten ihren Kindern seit der Entstehung des "Struwwelpeter" und vielleicht bis heute vortragen, ist so etwas wie der Fluch, der auf Hoffmanns vielschichtiger Bilder-Story liegt.

Ein Verfechter schwarzer Pädagogik?

Dabei wollte Heinrich Hoffmann Kindern gar nicht drohen, sondern sie "frappieren", also verblüffen. So hat er es mal genannt, als er darüber schrieb, wie er Kinder, die sich wehrten, ärztlich behandelte. Beate Zekorn will dem Museumspublikum nahebringen, dass Hoffmann gerade nicht der Verfechter schwarzer Pädagogik war, als der er bis heute gilt. Sondern als Mediziner in einer Zeit mit großen Epidemien und hoher Kindersterblichkeit aufklären wollte.
"Und mit seinen Geschichten, den Figuren, die er sich ausdenkt, und ihrem Schicksal versucht er, Kinder dazuzubringen mitzudenken. Daumen in den Mund - unter den hygienischen Verhältnissen der Zeit kann eben tödlich sein für dieses Kind. Und vor diesem Hintergrund relativiert sich diese Drohung, die von der Geschichte ausgeht, mit dem Daumen-Abschneiden. Er war, glaube ich, über die Art der Darstellung, die Übertreibung, über dieses Karikaturhafte, diese Zuspitzung war er der Meinung, dass die Kinder das auch nicht ernst nehmen."
Lachende Fische, Katzen, die weinen, als hätte man Wasserhähne aufgedreht, eine Suppenschüssel als Grabauflage - schon Vorschulkinder lassen bei Führungen im Struwwelpeter-Museum durchblicken, dass sie das als fantastische Verzerrung und ironische Überspitzung erkennen können. "Wackelpeter Attentäter" nennt Franz Konter seine Collagen-Ausstellung, die mit den originalen Struwwelpeter-Illustrationen arbeitet.
"Struwwel"-Collagen eines Frankfurter Malers
"Struwwel"-Collagen eines Frankfurter Malers© Maria Obermaier
Als Kind gruselte sich der Frankfurter Maler, während seine Oma mit dem Bilderbuch mahnte und warnte. Als "schwarze Pädagogik" hatte auch Konter die Episoden lange beiseitegelegt, bis sich ein Kontakt zum Struwwelpeter Museum ergab.
"Und dann hab ich plötzlich gemerkt, dass zum Teil so richtig archetypische Geschichten damit verbunden sind, also das Tintenfass hier von dem Nikolaus, das hat fast so ein bisschen was von einer Reise in die Schattenwelt auch, im konkreten wie im übertragenen Sinne."
Auf einer dreiteiligen Leinwand schwelgt Konter geradezu im überbordenden Tintenschwarz. Den roten, ausgeschnittenen Nikolaus, der die kleinen Rassisten aus Hoffmanns Geschichte ins Fass tunkte, muss man am unteren Bildrand des Mittelteils suchen.
"Das hat schon so was sehr Urtümliches, wie so diese Jungschen Archetypen im Grunde so auch in der Psyche verhaftet sind. Und von daher denke ich schon, da ist so eine Ursubstanz, die man in künstlerischer Arbeit in vielfältigster Form dann auch nach oben bringt."
Mit einem Vulkanausbruch von Farbe tut es der Frankfurter Maler Franz Konter. Mit eruptiven musikalischen Übergängen vom Bravsein zum Aufstand überrascht der Berliner Bühnenkünstler Rainald Grebe.
"Wenn die Kinder artig sind,
kommt zu ihnen das Christkind."

Ausdruck unterdrückter Wünsche und Aggressionen

Kein Zweifel – der "Struwwelpeter" aus der Feder des Frankfurter Psychiaters spricht bei Kindern und Erwachsenen unterdrückte Wünsche und Aggressionen an, unbewusste Ängste und Verlassenheitsgefühle. Auch das erklärt seine über fast zwei Jahrhunderte währende Lebendigkeit.
Unter den Büchern, die Rainald Grebe für seine Stück-Entwicklung gewälzt hat, war auch die Studie einer Kronberger Psychoanalytikerin zu den "Struwwel"-Figuren. Anita Eckstaedt sieht diese Figuren als Negativprojektionen des verlassenen Kindes Heinrich, dessen Mutter früh starb.
"Okay, Gaby, bitte Stichwort."
Längst ist Grebe mit seiner "Struwwelpeter"-Probe vom Ost-Frankfurter Industriegebiet auf die große Bühne des Schauspiels umgezogen. Bei der ersten Kostümprobe auf weißer Bühne trägt er weiß, genau wie Gaby Pochert, die in die Rolle der Psychoanalytikerin geschlüpft ist und einen riesigen leeren Bilderrahmen trägt:
"Alle Kinder in diesem Buch sind Abspaltungen des einen ‚Struwwelpeter‘-Kindes, das Heinrich Hoffman selbst ist."
Alle "Struwwel"-Figuren Abspaltungen des verlassenen Kindes Heinrich? Eine von vielen möglichen Lesarten, die Rainald Grebe fasziniert. Über seine eigene Verbindung zum "Struwwelpeter" sagt er:
"Ich komme aus so einem bürgerlichen Elternhaus, ja auch, das hat schon viel mit mir zu tun gehabt, was da drinsteht, also: sehr viel 19. Jahrhundert in mir drin."
Dass dieses zweidimensionale Bilderbuch übers 19. Jahrhundert weit hinaus weist, hat Grebe im "Struwwelpeter"-Museum erfahren, das er mit seinem ganzen Ensemble besichtigte. Jetzt revanchiert sich Beate Zekorn mit einem Probenbesuch. "Die Fachfrau fürs Struwwelige" ruft ihr Nino Sandow zu, während sie sich im Großen Haus in eine der leeren Reihen setzt. Oben auf der Bühne tastet sich der Berliner Schauspieler an die Vertonung vom "Hans-Guck-in-die-Luft". Erst mal ohne Begleitung.
"Einst ging er an Ufers Rand
mit der Mappe in der Hand
nach dem blauen Himmel hoch
schaut er, wo die Schwalbe flog"
"Weiter."
"Scheiße!"
Sobald dem Opernsänger der Text ausgeht, ergänzt Beate Zekorn murmelnd die Reime. Hoffmanns "Struwwelpeter" beherrscht sie aus dem Effeff. Über den "Struwwelpeter" von Grebe und seiner Crew kann sie nur spekulieren, nämlich dass ihre Museumsführung als Hintergrundinformation mit eingeflossen ist.
"Und was jetzt rauskommt, weiß ich nicht. Aber ich glaube, ich habe sie so ein bisschen von dieser schwarzen Pädagogik zu einem differenzierteren Blick geführt, hoffe ich jedenfalls."
Wie die experimentelle Mischung von historischer Bilderbuch-Vorlage und Frankfurter Hoffmann-Geschichte mit authentischen Kindheitserfahrungen und -Erinnerungen der beteiligten Laiendarsteller am Ende funktioniert,
"…das weiß eigentlich noch keiner",
… gibt die elfjährige Lea zu. Kurz vor der Premiere hat aber zumindest Rainald Grebe als Autor und Regisseur eine Ahnung.
Rainald Grebes Inszenierung des "Struwwelpeter" in Frankfurt am Main.
Proben-Schwerstarbeit unter Perücke: Rainald Grebes Inszenierung des "Struwwelpeter" in Frankfurt.© Schauspiel Frankfurt
Für die Laien, davon einige um die 70 und älter, ist es jedenfalls Proben-Schwerstarbeit im Blindflug. Rund fünf Stunden dauert allein die erste Kostümprobe, dabei schwitzen die Senioren unter blonden "Struwwel"-Perücken. Mecky Hildebrandt ist nicht das erste Mal Statistin und hat den Vergleich.
"Ich finde das toll, ich finde ihn als Regisseur auch toll. In dem Tankred-Dorst–Stück, da war doch die Regie eine ganze Ecke straffer. Aber das war auch von vorn bis hinten textgleich, und hier ist ja doch mehr 'as we go along'. Das ist eine Herausforderung."
"Eine intellektuelle Herausforderung, zumal in unserem Alter. Und ich persönlich muss sagen, ich habe einen Todesfall, also mein Mann ist gestorben, und es ist total gut, dass ich das jetzt machen darf, das ist mir wirklich ganz wichtig geworden."
Dass sie für die Grebe-Inszenierung biografische Details auf großer Bühne preisgibt, wertet Margot, die ihren Nachnamen nicht nennen will, nicht nur als Vertrauensbeweis für den Regisseur.

"Aber Vertrauen auch in mich - Leben ist Leben."
Der "Struwwelpeter" im Schauspiel Frankfurt - pralles Leben, betrachtet mit einer Portion schwarzen Humors: dem von Hoffmann - und dem von Grebe. Klingt nach einer reizvollen Kombination.
"Ich bin gespannt. Ich finde es interessant, wenn das heute noch neu interpretiert wird oder anders gesehen wird – das finde ich eigentlich gut",
… sagt die Frankfurterin Gabriele Schmitthenner. Die Ururenkelin von Heinrich Hoffmann will sich den "Struwwelpeter" von und mit Rainald Grebe auf jeden Fall anschauen.

"Struwwelpeter – nach Dr. Heinrich Hoffmann, von und mit Rainald Grebe": Uraufführung am 04.06. am Schauspiel Frankfurt, 09. und 10.06. am Theater Marl - Ruhrfestspiele Recklinghausen

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