Patriot-Raketen sind "Instrument der Deeskalation"

Harald Kujat im Gespräch mit Nana Brink · 14.12.2012
Deutschland sei sicherheitspolitisch gereift, sagt der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat. Das zeige die breite Zustimmung im Bundestag zur Stationierung von Patriot-Raketen an der türkisch-syrischen Grenze.
Nana Brink: Der Bundestag wird heute entscheiden über die Entsendung von Patriot-Raketenstellungen in die Türkei. Er wird, davon kann man ausgehen, mit einer breiten Mehrheit zustimmen, dieser Entsendung, dass bis zu 400 deutsche Soldaten unter NATO-Kommando an die syrische Grenze verlegt werden, vielleicht sogar schon im nächsten Januar.

Und da überrascht es schon im Hinblick auf die unübersichtliche Situation in Syrien – die Nachrichtenlage spricht ja dafür, dass die letzten Tage des Assad-Regimes gezählt sind –, dass alle Parteien bis auf die Linken dem Bundeswehreinsatz zustimmen, vor allem, weil klar ist, dass es ein politisch gewollter Akt der Unterstützung für den NATO-Partner Türkei ist.

Ich spreche jetzt mit Harald Kujat, dem ehemaligen Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses. Schönen guten Morgen, Herr Kujat!

Harald Kujat: Guten Morgen, Frau Brink!

Brink: Viele Militärs, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, und viele Experten, zum Beispiel von der Stiftung Wissenschaft und Politik, kritisieren: Dieser Einsatz mache militärisch wenig Sinn. Sie sind General a. D. der Luftwaffe – wie sehen Sie das?

Kujat: Zunächst mal muss man sagen: Er macht aber sicherheitspolitisch eine Menge Sinn, und entscheidend ist die Sicherheitspolitik. Richtig ist, dass dieser Einsatz zum Beispiel nicht gegen Artilleriegeschosse oder Ähnliches schützen kann, was ja in der Vergangenheit der Fall war. Aber man muss auch sagen: Wir wissen nicht, wie ein Regime reagiert, das mit dem Rücken zur Wand steht. Das wäre zwar irrational, aber wir haben oft in der Geschichte gesehen, dass solche Regime irrational reagieren, und da ist es doch möglich, dass auch Luftwaffe eingesetzt wird auf syrischer Seite oder gar Raketen eingesetzt werden gegen die Türkei – und dagegen könnte militärisch dieses System schützen.

Aber erneut, ich sage es erneut: Entscheidend ist der sicherheitspolitische Aspekt. Es ist ein Instrument der Deeskalation, das jetzt eingesetzt wird, und es ist ein Instrument, das die Solidarität der Bündnispartner gegenüber einem Verbündeten zeigt. Und insofern ist der Einsatz völlig richtig.

Brink: Im Laufe der Woche sind ja mehrere Raketen, Sie haben es selber angesprochen, wahrscheinlich Scud-Raketen innerhalb Syriens abgeschossen worden, die Lage wird immer unübersichtlicher – und da erstaunt es doch, dass der Bundestag in relativer Einmütigkeit diesem Einsatz zustimmen wird. Werden da Risiken übersehen?

Kujat: Nein, das denke ich nicht. Ich denke schon, dass dieser Einsatz vernünftig ist, dass er sicherheitspolitisch sehr viel Sinn macht, bündnispolitisch vor allen Dingen sehr viel Sinn macht. Außerdem kommt hinzu: Er ist sehr lange und sehr, denke ich, unter vielen Aspekten öffentlich diskutiert worden – das halte ich für extrem wichtig –, und nach dieser Diskussion eine so breite Unterstützung des Bundeswehreinsatzes ist ein Zeichen dafür, dass wir sicherheitspolitisch gereift sind.

Brink: Sie haben es selbst betont: Dieser Einsatz ist ein sicherheitspolitischer Einsatz, der zur Deeskalation, wenn ich Sie richtig verstanden habe, beitragen soll.

Kujat: Ja.

Brink: Aber kann man das denn überhaupt ausschließen, dass die Bundeswehr nicht in eine militärische Auseinandersetzung hineingezogen wird?

Kujat: Nun, wenn das Assad-Regime irrational reagieren würde und die Türkei angreifen würde, dann müsste natürlich dieses System eingesetzt werden, das heißt, dann wären natürlich die dort stationierten Soldaten Teil eines dann entstehenden Konfliktes. Das ist doch klar. Das ist der Sinn des Einsatzes.

Brink: Und was passiert dann?

Kujat: Na ja, dann schießen die natürlich ihre Raketen ab und schützen damit einen Bündnispartner, so, wie es der NATO-Vertrag vorsieht. Aber das ist, das muss man immer wieder sagen, Frau Brink, das ist sehr weit hergeholt. Das wäre nur dann der Fall, wenn dieses Regime wirklich sehr irrational reagieren würde.

Brink: Aber Sie haben selber gesagt, mit Verlaub, das kann passieren, solche Regime können dazu neigen, irrational zu reagieren.

Kujat: Natürlich.

Brink: Nehmen wir doch mal die Chemiewaffen, das ist ja das, was auch die westliche Welt besonders beschäftigt: Wer weiß denn, wenn das Assad-Regime kippt, in wessen Hände sie geraten und was sie damit machen?

Kujat: Nun, das ist überhaupt die große Frage. Wir haben das ja auch in den anderen Ländern gesehen, die sozusagen vom Arabischen Frühling eingeholt wurden. Wir wissen nicht, wie sich die Machtverhältnisse nach einem Sturz des Assad-Regimes darstellen werden. Wir wissen nicht, ob El Kaida dort an Einfluss gewinnen wird. Das sind alles offene Fragen.

Die westlichen Staaten, die westlichen Demokratien sind mit dieser Unterstützung ein Risiko eingegangen und zwar von Anfang an, von Tunesien über Ägypten bis hin zu Syrien. Aber sie sind offensichtlich bereit, dieses Risiko zu tragen.

Brink: Sie sind nun Vorsitzender des NATO-Militärausschusses gewesen, stecken also tief drin in den Überlegungen, die man immer hatte innerhalb der NATO. Was passiert denn jetzt da? Macht man sich darüber Gedanken und vor allen Dingen auch, wie man auf so eine Situation, also auf einen Einsatz von Chemiewaffen zum Beispiel, reagieren kann?

Kujat: Nun, das ist selbstverständlich. Man muss sich Gedanken darüber machen, immer voraus denken und versuchen, die möglicherweise entstehende Entwicklung zu analysieren und auch zu überlegen, welche Maßnahmen es geben könnte. Das ist völlig klar, das gehört dazu. Welcher Art diese Überlegungen sind – es ist nicht meine Sache, zu spekulieren. Aber es ist ja deutlich genug gesagt worden von Präsident Obama, von anderen Politikern, vom NATO-Generalsekretär, dass man einen solchen Einsatz nicht tolerieren würde.

Und ich glaube, das ist auch ein Signal an das Assad-Regime, auch eine Maßnahme zur Deeskalation, eine Maßnahme, die diesem Regime vor Augen führen soll, dass ein solcher Einsatz nicht ungestraft ablaufen könnte. Und das halte ich für völlig richtig.

Brink: Also wenn es diesen Einsatz gäbe, dann greift der Paragraf 5, also sozusagen die Beistandspflicht innerhalb der NATO?

Kujat: Wenn der Einsatz innerhalb Syriens erfolgt, dann greift der nicht. Wenn der Einsatz gegen die Türkei erfolgt, also türkisches Territorium bedroht wird, dann würde er natürlich greifen.

Brink: Sie haben sich sehr intensiv auch damit beschäftigt, mit dieser Situation. Wie schätzen Sie das ein – wie lange kann Assad noch durchhalten und welche Rolle wird das Militär dort spielen?

Kujat: Nicht mehr lange, und das Militär wird, anders als in Syrien, keine Rolle spielen.

Brink: Harald Kujat, der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses. Schönen Dank, Herr Kujat, für das Gespräch!

Kujat: Ja, danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
General Harald Kujat, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
Harald Kujat© AP-Archiv
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