Party der Performer

Von Stefan Keim · 11.07.2011
Ein Keller der bizarren Begierden, Pöbeleien auf einem Punkrockkonzert: Auf dem Theaterfestival Impulse in Nordrhein-Westfalen geht es wild zu. Die Aufführungen haben einen Grad der Abgedrehtheit erreicht, der so schnell nicht übertroffen werden kann, meint unser Rezensent.
Die Schauspieler agieren hinter einem Kunststoffvorhang. Nur ihre Silhouetten sind manchmal zu sehen, wären da nicht zwei Videoscreens oberhalb der Bühne. Durch sie kann man hineinsehen in einen Keller der bizarren Begierden. Hier hat sich der Herr des Hauses eine Welt nach seinen Vorstellungen gebaut. Er ist der Vater, tanzt nur mit einer Unterhose bekleidet herum, bedrängt die anderen, stößt immer wieder affenähnliche Laute aus. Ein anderer Mann trägt Frauenkleider, bezeichnet sich als Tochter, kümmert sich um zwei debile Söhne. Der eine rennt mit einer Windel herum und spricht im Falsett, der andere schaut meistens ziemlich dämlich drein.

Natürlich denkt man bei der Performance "Conte d'Amour" gleich an den Fall Fritzl. Von moralischen Urteilen hält sich der bildende Künstler Markus Öhrn bei seiner ersten Regiearbeit allerdings fern. Er zeigt eine Lebensform, die zwar eine brutale Unterdrückung darstellt, aber auch Wärme, Schutz, Sicherheit bietet. Wenn die vier zum Schlafen zusammenkriechen, haben sie etwas von Tieren, die sich in ihrer Höhle aneinanderkuscheln. Es sind seltsame, ehrliche, irritierende Momente der Zuneigung. Natürlich sprächen sie auch mal über Inzest, sagt die Tochtermutter in eine Kamera. Aber Folgen zieht sie daraus nicht.

Das Publikum bleibt auf Distanz, erst am Schluss kommen die vier Darsteller hinter dem Vorhang hervor und singen einen melancholischen Song. Drei Stunden dauert die Aufführung, die Zuschauer sind aufgefordert, zu kommen und zu gehen wie sie wollen. Jeder kann entscheiden, wie lang er sich diesem ungewöhnlichen Theater aussetzt. Die Zusammenarbeit der schwedischen Gruppe Institutet und des finnischen Kollektivs Nya Rampen entstand in Berlin, das Ballhaus Ost und die Studiobühne Köln zählen zu den Koproduzenten. Beim Theaterfestival Impulse erhielt diese verstörende, faszinierende Aufführung den Hauptpreis und wird unter anderem beim nächsten Berliner Theatertreffen und den Wiener Festwochen gastieren.

Internationalität ist das Credo der beiden künstlerischen Leiter Matthias von Hartz und Tom Stromberg. Zum dritten und letzten Mal präsentieren sie die Impulse als schrille Showcase-Veranstaltung, zu der bereits am ersten Wochenende 45 internationale Kuratoren anreisten. Ein Bestentreffen der freien Szene sind die Impulse schon lange nicht mehr. Sie zeigen extreme künstlerische Positionen, oft stellt man sich die Frage, ob das, was man da sieht und erlebt, noch unter das Etikett Theater gehört.

"Endzeit 2" von HGICH.T aus Hamburg ist zum Beispiel ein Punkkonzert mit Videoprojektionen. Stagediving, seltsame Figuren und Anpöbeln von Zuschauern gibt es in dieser Szene ja auch, ohne dass jemand auf den Gedanken käme, hier sei keine Band, sondern ein Performancekollektiv am Werke. Reine Animation ohne Überbau präsentieren diesmal "God´s Entertainment" aus Wien. Sonst sind die Performer für ihre anarchischen Aktionen im öffentlichen Raum bekannt. Vor vier Jahren schlugen zwei von ihnen in der Bochumer Fußgängerzone aufeinander ein, bis die - echte und uneingeweihte - Polizei kam. "Trans-Europa-Bollywood" hingegen ist ein purer, netter Spaß. Erst schälen sich ein Mann und eine Frau nackt aus einem Zuckerbad. (Kann auch Salz sein, der Kritiker scheute den Geschmackstest.) Dann singen und tanzen die Performer zu indischer Popmusik, das Publikum spielt ironiefrei eine Quizshow nach und wird auf einen indischen Markt verfrachtet. Wo ein Bollywoodfilm gedreht wird. Alle behängen sich mit Tüchern und üben für eine Tanznummer. Dann geht's mit Taxis in ein indisches Restaurant, wo weiter getanzt wird. Club Impulse, all inclusive.

Die Verbindung von Performance und Party ist ein Trend des Festivals. Das gilt auch für die Special Guests. Reverend Billy und the Stop Shopping Gospel Choir begannen ihre antikapitalistische Show in der Kassenhalle der Deutschen Bank in Düsseldorf. Dort versuchten sie zuerst einen Exorzismus der Geldautomaten, was von fern an Aktionen Christoph Schlingensiefs erinnerte. Dann ging´s vor die Kunsthalle mit "Earthallujah"-Rufen und Gospelsongs. Ein witziges begehbares Computerspiel mit lebenden Figuren hat die Gruppe "Machina Ex" entwickelt. Wenn in "15.000 Gray" das Publikum nicht mitmacht, tritt die Show auf der Stelle. Die Aufgaben sind so kompliziert, dass man sie nur in der Gruppe lösen kann. Ein perfektes Angebot für Firmen, die die Teamfähigkeit ihrer Mitarbeiter verbessern wollen. Macht aber auch mit fremden Leuten einen Riesenspaß.

Die Preisjury bewegte sich bei ihren Entscheidungen mit Ausnahme von "Conte d´amour" in konventionelleren Bahnen. Der Preis des Goethe-Instituts, verbunden mit der Förderung von Auslandsgastspielen, wurde zweigeteilt. Er ging einmal an die viel und völlig zu Recht gerühmte Performance "Testament" von She She Pop und ihren Vätern, eine intelligente, witzige, unendlich berührende Aufführung, die wohl so lange gespielt wird, wie die Papas durchhalten. Ein Blockbuster der Off-Szene, der schon beim Berliner Theatertreffen abräumte. Den zweiten Goethe-Preis bekam das Tanztheaterstück "The Host", in dem der New Yorker Choreograf Andros Zins-Browne drei Cowboys auf einer Luftkisseninstallation tanzen lässt. Stoisch kämpft das Trio ums Gleichgewicht, rutscht ab, klettert wieder drauf, gibt niemals auf. Wer will, kann darin eine Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen oder dem Cowboymythos sehen. Ich fand die ganze Sache ziemlich dünn, eine Dreiviertelstunde Vorlauf für zehn irre Luftkissenminuten. Aber die Mehrheit der Festivalbesucher war begeistert.

Der Auswahljury und dem Leitungsduo ist es wahrhaftig gelungen, viele Künstler einzuladen, die im Koproduktionsnetz der Off-Theater noch völlig unbekannt sind. Die Rabtaldirndln aus Graz präsentieren einen abgründigen Heimatabend mit Wurst, Schnaps und Hossa. Doch die Fete rutscht in die Nähe des Grauens, wenn sie ganz selbstverständlich erzählen, dass die süße Toni immer etwas töten muss, wenn sich jemand für sie sexuell interessiert. So ist sie eben. Ganz ernsthaft um die Rettung der Welt geht es Anna Mendelssohn in ihrem ersten Solo "Cry me a river". Sie wälzt die ganz großen Themen, zitiert Politiker, Schriftsteller und Wissenschaftler, formuliert eigene Gedanken und sitzt dabei meistens ganz ruhig hinter einem Mikrofon. Einmal steht sie auf und versucht, die Schöpfung zu tanzen. Für diese konzentriert künstliche Annäherung an reale Probleme bekam Anna Mendelssohn den Dietmar N. Schmidt-Preis für eine heraus ragende Einzelleistung.

Man muss nicht immer laut sein. Im Konzert der Schrillen fallen manchmal die feinen, leisen Töne besonders auf. Sie kamen von der Schweizer Gruppe Capriconnection, die zusammen mit der Schola Cantorum Basiliensis ein Musiktheater über das Sterben aufführten. "Ars Moriendi" ist die schwebend-leichte Rekonstruktion einer komplexen philosophischen Debatte, kombiniert mit Gesängen Henry Purcells, die im Lauf des Abends immer dominanter werden. Marthaler für Magister, anspruchsvoll, poetisch, heiter im Angesicht des Todes. "Ars Moriendi" und Anna Mendelssohn waren die Ruhepunkte in einem aufgekratzten Programm. Das Publikum war bester Laune und feierte in den Sommer hinein. Tom Stromberg und Matthias von Hartz haben mit ihren dritten Impulsen einen Grad der Abgedrehtheit erreicht, der so schnell nicht übertroffen werden kann. Ihr Nachfolger muss das Festival neu definieren und einen anderen Blick auf die brodelnde, kreativ chaotische Off-Szene werfen.