Paris ganz nüchtern - und grausam

10.12.2012
Der Publizistin Marie-Luise Scherer, die mit Reportagen im "Spiegel" bekannt wurde, eilt ihr Ruf voraus. In ihrem Band "Die Bestie von Paris und andere Geschichten" geht es unter anderem um eine unheimliche Mordserie im Paris der 80er-Jahre.
Marie-Luise Scherer ist mit ihren Reportagen im Wochenmagazin "Der Spiegel" berühmt geworden. Ein geradezu legendärer Ruf ging ihr mit der Zeit voraus: die Verbindung von journalistischer Recherche, akribisch beobachteter Wirklichkeit und Literatur.

Das war natürlich zunächst auch ein Fall für die "Andere Bibliothek" von Hans Magnus Enzensberger, der die besten Texte Scherers 2004 in seiner bibliophilen Reihe herausbrachte. Vier dieser journalistischen Kabinettstücke erscheinen jetzt noch einmal neu: in der Reihe "Paris Passagen" des schon immer ein bisschen exzentrisch nach Frankreich ausgerichteten ambitionierten Verlags Matthes&Seitz.

Es sind in der französischen Hauptstadt verortete Reportagen Scherers und sie decken ein breites Spektrum ab: ein klassischer Kriminalfall, zwei detailreiche Einblicke in die glamouröse Literaturgeschichte der vor allem auch in Paris beheimateten Moderne und die Schilderung der aktuellen Modeszene, prêt-à-porter an der Seine.

Die Titelgeschichte "Die Bestie von Paris" zeigt Scherer in ihrer unverwechselbaren stilistischen Prägnanz: nüchtern, sachlich, ohne an irgendeiner Stelle eine wie auch immer angemessene Emotion aufkommen zu lassen, berichtet sie von einer unheimlichen Mordserie im Paris der 1980er-Jahre.

Es geht um 21 Morde, die der Haupttäter (bei den ersten neun Morden hatte er einen Komplizen) schließlich gestanden hat. Opfer waren immer alte, gebrechliche Frauen, die die beiden Täter auf dem Nachhauseweg ausspähen, sie an der Wohnungstür niederschlagen und bestialische Weise umbringen – oft nur wegen weniger Francs, die dabei abfallen.

Scherer beschreibt die Tathergänge und die sozialen Rahmenbedingungen der Täter in einer fast enervierend ruhigen Weise, ohne aufdringliche Wertungen. Die dunkelhäutigen, extrem jungen Täter kommen aus den Kolonien, der Haupttäter hat eine komplizierte Familiengeschichte und sucht in fieberhafter Weise, das Gefühl, ein unerwünschtes Anhängsel zu sein, zu überwinden – aber Scherer beschreibt das nicht psychologisierend oder gar einfühlsam, sondern als genauso nacktes Statement wie die Tathergänge. Nebenbei entsteht, vor allem durch die Opferbeschreibungen, ein hautnahes realistisches Bild des Pariser Alltags dieser Jahre.

Von ganz anderer Art sind die beiden literarischen Reportagen. Philippe Soupault, der letzte überlebende Surrealist der ersten Stunde, erzählt Anfang der 1980er Jahre von der mythischen Zeit der französischen Moderne, atmosphärisch dichte Details über das Leben von Apollinaire, Breton, Éluard, dem opportunistischen Cocteau und anderen.

Es ist eine hervorragende Literaturgeschichte im Kleinen, ein Mosaik aus Einzelaspekten, genauso wie im Text "Dinge über Monsieur Proust", der anhand der Dreharbeiten zu Volker Schlöndorffs (allerdings eher peinlich gescheiterten) Verfilmung von Prousts "Recherche" die biografischen Besonderheiten Prousts in gekonnter, fragmentarischer Reihung vor Augen führt.

Scherers Band ist ein Liebhaberband, ein schmuckes kleines Kassiber, das Frankophilen große Genüsse zu bereiten in der Lage ist.


Besprochen von Helmut Böttiger

Marie-Luise Scherer: Die Bestie von Paris und andere Geschichten
Verlag Matthes&Seitz, Berlin 2012
151 Seiten, 16,90 Euro