Parabel

Träumer im Kampf gegen die Dumpfheit

Wolken liegen über dem Mond.
Wolken liegen über dem Mond. © Bertrand Langlois / AFP
Von Elena Gorgis · 05.09.2014
Erst mit 14 Jahren hat die Jugendbuchautorin Sally Gardner Lesen und Schreiben gelernt. Ihr neues Buch "Zerbrochener Mond" erzählt die Geschichte eines jungen Teenagers, der an Legasthenie leidet - wie sie selbst.
Es ist Donnerstag, der 19. Juli 1956. Heute soll eine neue Ära beginnen, die erste Rakete startet zum Mond. Zumindest in einer Welt, in der der Zweite Weltkrieg anders ausgegangen ist und ein totalitäres Regime herrscht. Dem 15-jährigen Standish Treadwell ist die Mondlandung aber herzlich egal. Er weiß, da stimmt was nicht: der Mondmann, der eigentlich in der Rakete sitzen sollte, hält sich in Wahrheit bei ihm zuhause im Keller versteckt.
Als Standish an diesem Tag auch noch von der Schule geworfen wird, weil er nicht lesen und schreiben kann, erinnert er sich an die Geschichte eines Jungen namens David, der mit einem kleinen Stein den Riesen Goliath umhaut. Und er beschließt, die Sache mit der Mondlandung zu verhindern und das Regime zu Fall zu bringen.
Aber kann einer wie er das überhaupt? "Standish Treadwell / kann nicht schreiben kann nicht lesen / ist schon immer blöd gewesen", sagen die Mitschüler.
Ein geschickter Kunstgriff
Die englische Jugendbuchautorin Sally Gardner hat selbst erst mit 14 Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Wie ihr Protagonist Standish in ihrem mehrfach preisgekrönten neuen Buch "Zerbrochener Mond", ist sie Legasthenikerin. Ihre Dystopie erzählt sie aus seiner Perspektive – ein geschickter Kunstgriff, der ihr innovatives Erzählen ermöglicht und den Lesern ein Kennenlernen des Handicaps.
Man folgt Standish in seine Tagträume, in die er beim Erzählen immer wieder abschweift. Seine blühende Fantasie steht im krassen Kontrast zu der Welt, in der er mit seinem Großvater lebt. Hunger und Mangel sind an der Tagesordnung, Lehrer prügeln ihre Schüler, das Regime überwacht jeden. Wer sich nicht fügt, verschwindet für immer.
"Zerbrochener Mond" scheint auf den ersten Blick wieder so eine Dystopie zu sein, mit denen der Buchmarkt derzeit geradezu überflutet wird, aber Sally Gardner sticht aus der Masse: Die Sprache, die sie ihrer Figur Standish verleiht, ist von einer ungeheuren Wucht, manchmal unglaublich komisch, manchmal tief traurig, immer sehr pointiert. Mit wenigen Worten erschafft sie Szenen, für die andere Jugendbuch-Autoren mehrere Kapitel brauchen.
Aufforderung zum Ungehorsam
Die Metapher, die sie Standish in den Mund legt, sind hinreißend kreativ: Zweifel ist für ihn "ein dicker Wurm in einem knackig roten Apfel", wenn er Angst hat, schlägt sein Herz "wie ein Ei beim Kochen an die Topfwand" und er stellt sich oft dumm, weil er sonst auffällt "wie ein grüner Himmel über einer blauen Wiese". Er ändert Wörter und Redewendungen ab, sagt zerdammt anstelle von verdammt, und seine Vorsicht will er nicht in den Wind schlagen, sondern "in den Wald schießen".
Sally Gardners Widmung zu Beginn des Buches lautet: "Für Euch Träumer / in der Schule übersehen / nie einen Preis gewonnen: / Euch gehört das Morgen".
Ihr Buch ist eine Aufforderung zum Ungehorsam, zum Widerstand gegen Dumpfheit, Dummheit und Unmenschlichkeit. Mehr noch es ist eine Parabel von umwerfender, zeitloser Schönheit über das moralisch richtige Handeln - trotz denkbar schlechter Ausgangslage.

Sally Gardner: Zerbrochener Mond
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Carlsen Verlag, Hamburg 2014
288 Seiten, 16,90 Euro