Panorama aus Einzelschicksalen

Von Jochen Stöckmann · 14.04.2013
In seinem Buch beschreibt William T. Vollmann Menschen, die sich im Räderwerk totalitärer Systeme moralisch verhalten müssen. Anhand zeitgeschichtlicher Dokumente skizziert der US-Schriftsteller biografische Momentaufnahmen in entscheidenden Augenblicken.
Um einige Dutzend Menschen und deren Leben und Überleben unter Hitler oder Stalin ranken sich Geschichten, die William T. Vollmann ineinander verwebt, deren Protagonisten er gerne miteinander sprechen lässt - am Telefon: Der Romantitel "Europe Central" verweist auf eine imaginäre Vermittlungs- und Schaltzentrale, in der Vollmanns zwischen den Figuren changierendes Autoren-Ich die Dialogfäden unmerklich in der Hand hält wie einst der anonyme Zwerg im Schachautomaten aus dem 18. Jahrhundert.

Fanya Kaplan, die ein Attentat auf Lenin verübte, trifft auf dessen Ehefrau Nadeschda Krupskaja. Es kreuzen sich die Lebenswege von Käthe Kollwitz, der sozialkritischen Künstlerin und dem Raketenkonstrukteur Wernher von Braun. Die Filmarbeit des sowjetischen Kameramanns Roman Karmen an der Front in Stalingrad wird konfrontiert mit den Erinnerungen des Armeegenerals Paulus.

Ob das Schicksal der Dichterin Anna Achmatowa, die Karriere der zur DDR-Justizministerin avancierten Parteikommunistin Hilde Benjamin oder Reflexionen des Komponisten Dimitri Schostakowitsch, eine unübersehbare Masse von Fakten und Fiktionen amalgamiert William T. Vollmann zu einem in jeder Hinsicht aufregenden literarischen Mosaik. Irritierend wirkt dabei die niemals vorgegebene, sondern schlicht spürbare Authentizität bei der Schilderung von Weltkriegserlebnissen an der Front, in den Lagern oder Folterkellern der Geheimpolizei. Denn Vollmann kommt aus Los Angeles, ist Jahrgang 1959:

"Wenn ich über etwas schreibe, das ich selbst nicht gesehen habe, dann mag das stimmen oder auch nicht. Da ist es doch viel ehrlicher, interessanter und nützlicher, sich zu sagen: ok, ich weiß es nicht, also gehe ich dorthin, mache meine eigenen Erfahrungen, öffne mich dem Problem - und schreibe vielleicht etwas Wichtiges."

Seine eigenen, hautnahen Erfahrungen machte der literarische Reporter unter anderem 1992 im belagerten Sarajevo. Aber auch bei der akribischen Recherche in den Archiven lässt Vollmann sich von seinen Gefühlen, seinem Einfühlungsvermögen leiten. Das Ergebnis ist ein Roman, in dessen Verlauf der Leser sich an der Seite des Autors Schritt für Schritt dem übermächtigen Sujet nähert - nämlich einem mit dem Mai 1945 durchaus nicht beendeten Weltbürgerkrieg - ohne dabei die Einzelschicksale aus dem Auge zu verlieren.

In faszinierender Widersprüchlichkeit konfrontiert Vollmann die Historie mit seinen Stories, stellt allen angeblichen Wahrheiten der Geschichte seine imaginierten, aber auf verbürgten Fakten beruhenden Geschichten entgegen. Und die spielen in den Schaltstellen der Macht oder auch im Hinterland, meist weit weg von der Front mit den spektakulären Bildern, den Fotos und Filmen militärischer Gewalt und Grausamkeit. Vollmann wendet sich stattdessen den "Leichen im Keller" zu, etwa im Deutschland der 50er-Jahre:

"Heinrich Böll ist einer meiner deutschen Lieblingsautoren, vor allem mit Romanen wie 'Billard um halb zehn'. Alles wird verhüllt, es wird gelogen oder abgestritten. Liest man dann die Geschichten anderer darüber, was an der Front geschah, ist es umso packender, so etwas nicht direkt vor sich zu sehen, aber zu wissen, dass es noch lange danach präsent ist. Da hat Böll wirklich Großartiges geleistet."

Vollmanns Leistung besteht darin, dass er die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht in Schockbilder von Leichenbergen, zertrümmerten Städten und Ruinenlandschaften fasst, sondern ein Panorama aus Einzelschicksalen, eine literarische Landkarte irrlichternder Kreuz- und Querzüge entfaltet.

"In 'Krieg und Frieden' legt Tolstoi darauf Wert, dass Napoleon selbst zwar denkt, er allein sei es, der die französische Invasion in Russland führt, dass er tatsächlich aber nur ein Stück Baumrinde ist, das auf dem Fluss dahintreibt. Ich denke, so beschreibt man das wirkliche Leben, nämlich wie Menschen von den Umständen ergriffen werden - statt zu sagen: Wäre Hitler nicht gewesen, wäre das alles nicht geschehen."

Weder Hitler noch Stalin sind die zentralen Protagonisten, auch Wernher von Braun spielt keine Hauptrolle, eher die von ihm entwickelten V-Waffen: In einer Art "Biographie des Dings" zeigt Vollmann etwa am Beispiel des nicht nur als literarische Metapher auftauchenden Stahls, wie die aus diesem Material gefertigten Bomben, Geschützrohre und Raketenprojektile in ihrer jeweiligen Gestalt, ihrem Design als Zeugnisse einer Epoche gesehen werden können:

"Platon zufolge hat jedes Gebilde ein besonderes Wesen, seine Eigenart. Daraus ergibt sich am Ende seine ideale Form. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, sich Menschen vorzustellen, die daran arbeiten, einer Waffe so viel Böses, Hass und Zerstörung einzuverleiben, dass sie in Platons Sinne zu sich selbst findet."

Und so kann Vollmann, der einigen Kritikern als "Waffennarr" gilt, eben auch aufgrund seiner technischen Kenntnisse die Geschichte, seine Geschichte mit Blick auf die neueste Waffentechnik aktuell fortschreiben:

"Das Wesen einer Drohne ist, Menschen zu töten: unter Geheimhaltung, ohne sich zu verantworten, ohne Erklärung. Es ist die Waffe von Regierungen, die sich weder um Gesetze kümmern noch um Gewissensfragen oder die öffentliche Meinung."
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