Palästinensisches Klangkollektiv

Elektronische Sounds mit politischer Botschaft

Menschen auf einer Straße vor Häusern, halten die palästinensische Flagge hoch, Arme in der Luft, rufen.
Demonstration von arabischen Israelis in Nazareth: Auch die Musiker von Checkpoint 303 verstehen ihre Arbeit als politisch. © AHMAD GHARABLI / AFP
Von Carsten Beyer · 16.07.2015
Das arabische DJ-Kollektiv Checkpoint 303 verbindet elektronische Musik mit politischem Anspruch. Auf ihrem neuen Album "The Iqrit Files" erzählen die Künstler vom Schicksal eines palästinensischen Dorfes im Norden Israels.
Iqrit ist ein kleines Dorf im Norden von Galilläa, an der Grenze zum Libanon. Oder besser: Iqrit war einmal ein kleines Dorf. Heute gibt es hier nur noch einen Friedhof, ein paar Steinhaufen und die Ruinen einer Kirche. 1948, im arabisch-israelischen Krieg, wurde Iqrit dem Erdboden gleich gemacht. An die 500 Bewohner, die meisten von ihnen palästinensische Christen, wurden vertrieben, die Häuser zerstört und die Felder verwüstet. Heute ist Iqrit vor allem ein Symbol für das Schicksal des palästinensischen Volkes– so zumindest sieht es SC MoCha, der Gründer des arabischen DJ- Kollektivs Checkpoint 303, der sich die "Iqrit Files" ausgedacht hat.
"Die Tragödie dieses Dorfes war der Ausgangspunkt für unser Projekt. Iqrit ist ein Beispiel für viele, viele andere Dörfer in Palästina, aus denen die Menschen nach der Errichtung des Staates Israel im Jahr 1948 vertrieben wurden. Darin liegt meiner Ansicht nach die Wurzel dessen, was heute im Nahen Osten passiert. All das Leid, der Hass und die Gewalt. Was für mich aber auch ganz wichtig war bei den Iqrit Files, das war die Kraft und die Schönheit der traditionellen palästinensischen Musik. Die Sänger, die hier auf diesem Album zu hören sind, wurden alle in den Ruinen des alten Iqrit aufgenommen."
Jawaher Shofani heißt die Sängerin, die hier zu hören ist. Sie ist schon über 80 und kann sich noch gut daran erinnern, was damals passiert ist, als die israelischen Soldaten kamen. In ihren Liedern klingt das nahezu poetisch, doch wenn man die englischen Texte im Booklet mitliest, dann entfaltet sich die ganze traurige Geschichte der Nakba, der Katastrophe, wie viele Palästinenser ihre Vertreibung bis heute nennen. Vermischt mit der Musik von Checkpoint 303 und historischen Fernseh-O-Tönen wirkt das manchmal fast wie ein Hörspiel, wie die apokalyptische Collage einer humanitären Tragödie.
Viele Töne stammen aus Fiel Recordings
"Die Töne, die wir verwenden, stammen aus Field Recordings, die wir in Palästina aufgenommen haben in den letzten Jahren, auch auf der Straße in Ländern wie Tunesien oder Ägypten. Das ist mein Rohmaterial. Ich schneide das und mixe es mit elektronischen Beats und mit typischen arabischen Instrumenten wie der Oud zum Beispiel – und heraus kommen diese Klanglandschaften, die etwas erzählen über das tägliche Leben auf der Straße und darüber, wie wichtig Freiheit und Bürgerrechte für die arabische Welt sind."
An manchen Stellen des Albums wird die kontemplative Stimmung abrupt durchbrochen. SC MoCha und seine Begleiter ziehen das Tempo an. Breakbeats und Techno- Sounds wechseln sich ab, dazu gibt es gesampelte Fetzen von Bob Marley oder Nelson Mandela. Wäre man jetzt bei einem Live-Konzert, würde man jetzt vielleicht anfangen zu tanzen - aber ist das überhaupt zulässig angesichts der Thematik?
"Das ist eine gute Frage. Leute, die unsere Musik mögen, stehen manchmal vor diesem Dilemma, vor allem dann, wenn die Songs ein bisschen schneller sind, wenn wir zum Beispiel Elemente aus Drum 'n' Bass oder Jungle verwenden. Im Grunde muss das jeder für sich selbst entscheiden. Meine persönliche Meinung ist, dass man sehr wohl zu unserer Musik tanzen darf. Wir zelebrieren ja nicht die Tragödie der Palästinenser, im Gegenteil: Wir zelebrieren den Mut dieses Volkes trotz der Ungerechtigkeiten, trotz des Leidens, mit dem die Menschen täglich konfrontiert sind."
Zwiespältiger Höreindruck
"The Iqrit Files" hinterlassen einen zwiespältigen Höreindruck. Zu abrupt sind die Stimmungswechsel zwischen lyrischen und tanzbaren Passagen, zu gewollt die Mischung zwischen palästinensischer Folklore, Revolutions-Mythologie und elektronischer Avantgarde. Hinzu kommt, dass die politische Botschaft der CD an vielen Stellen recht einseitig ist: Hier die unterdrückten Palästinenser, dort die bösen Israelis – das war 1948 so und daran hat sich bis heute nichts geändert. Diesen Vorwurf allerdings weist SC MoCha von sich. Er wolle nicht anklagen, sondern aufklären, sagt er, denn nur so könne sich irgendwann vielleicht doch mal etwas im Nahen Osten ändern.
"Das ist der Luxus, den wir uns als Künstler leisten können. Wir können Wahrheiten frei aussprechen und müssen die Dinge nicht – wie ein Politiker – von allen möglichen Seiten beleuchten. Die Leute sagen oft, die Lage im Nahen Osten sei kompliziert. Ich finde sie gar nicht so kompliziert. Es gibt dort Besatzer und Besetzte, es gibt eine Menge UN-Beschlüsse, die von Israel niemals umgesetzt wurden, die Situation ist ziemlich eindeutig. Aber wir wollen den Menschen nicht sagen, was sie denken sollen. Wir sagen nur: Schaut Euch die Situation an und bildet Euch selbst eine Meinung."
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