"Pädagogische Qualität ist messbar"

Moderation: Liane von Billerbeck · 26.05.2008
Die Investition in frühkindliche Bildung lohne sich für die Öffentlichkeit, sagt der Professor für Kleinkindpädagogik Wolfgang Tietze und fordert die Einführung eines Qualitätssiegels für deutsche Kindergärten. Entwicklungsunterschiede von bis zu einem Jahr seien bei Kindern auf die unterschiedliche Qualität von Betreuungseinrichtungen zurückzuführen.
Liane von Billerbeck: Und in der geht es am heutigen Montag um die frühkindliche und vorschulische Bildung von Kindern und damit um das ehrgeizige Projekt von Familienministerin von der Leyen, die bis 2013 für etwa ein Drittel der unter Dreijährigen Kinderplätze in Betreuungseinrichtungen anbieten will. Bis zu 100.000 neue Erzieherinnen würden dafür benötigt. Doch schon jetzt gibt es zu wenig Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen. Viele von ihnen sind zwischen 55 und 60 Jahre alt, und sie werden zudem sehr schlecht bezahlt. Wenn Erzieher fehlen, wird es noch schwieriger, die Pläne durchzusetzen und Kitas von Betreuungs- zu Bildungseinrichtungen umzuwandeln. Masse statt Klasse? Darüber sprechen wir jetzt mit dem Bildungsforscher Prof. Wolfgang Tietze, der an der Berliner FU Kleinkindpädagogik lehrt und am Zwölften Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung mitgearbeitet hat. Und er hat schon in den 90-er Jahren Kitas untersucht. Herr Prof. Tietze, herzlich willkommen!

Wolfgang Tietze: Guten Morgen!

Von Billerbeck: Wie gut sind denn deutsche Kindergärten?

Tietze: Die Qualität ist sehr unterschiedlich. Wir finden eine ganz große Bandbreite vor von guter Qualität bis zu Einrichtungen, bei denen man sagen müsste, wenn sie so weitermachen, gehörten sie eigentlich geschlossen. Also Einrichtungen, die einen unmittelbaren Qualitätsschub benötigen. Die unterschiedliche Qualität geht übrigens nicht einher mit Trägerlinien, dass man sagen könnte, die Einrichtung des einen Trägers sind besser als die des anderen. Sondern wir haben innerhalb derselben Trägerschaft diese große Bandbreite. Und nun kann man natürlich sagen, ist das Glas halbvoll oder ist es halbleer.

Ich denke, es reicht nicht aus, wenn weniger als ein Drittel der deutschen Kindergärten im Bereich guter Qualität liegen, die allermeisten in so einem Bereich gehobener Mittelmäßigkeit, wie wir das nennen. Und dann eben auch einige, die eigentlich unter dem Strich sind. Das heißt, wir müssen hier nachhaltig etwas tun und die ganze Qualitätsdebatte wird als Sonntagsredendebatte geführt. Im Vordergrund steht im Augenblick die Frage nach den Plätzen, nach der Anzahl, aber das reicht nicht.

Von Billerbeck: Woran erkennen denn Eltern nun eine gute Kita?

Tietze: Das ist schwierig für Eltern, denn Eltern haben im Regelfall keine direkte Erfahrung. Eltern gehen nicht in die Einrichtung, setzen sich dort zwei Vormittage hin und hören zu. Deswegen sind Eltern im Grunde angewiesen auf Informationen von außen, auf sachverständige Informationen, etwa indem Qualität nachgewiesen, unabhängig untersucht wird und Eltern sich dann ein Bild machen können, damit eben nicht nur in die elterliche Entscheidung eingeht, wie lange hat die Einrichtung geöffnet, wie flexibel ist sie und liegt sie um die Ecke.

Von Billerbeck: Was wäre denn nun eine gute Kita. Woran würde man die erkennen?

Tietze: Einmal, dass die Gruppen nicht so groß sind. Dass ein günstiger Erzieher-Kind-Schlüssel da ist.

Von Billerbeck: Wie groß müsste der sein?

Tietze: Der hängt ab vom Alter der Kinder. International gehen wir davon aus, dass für Kinder unter einem Jahr ein Schlüssel von vier zu eins angemessen ist.

Von Billerbeck: Ja, kann man sich vorstellen.

Tietze: Für Kinder von eins bis zwei sechs zu eins. Für Kinder von zwei bis drei acht zu eins und dann für die älteren zehn bis maximal zwölf zu eins.

Von Billerbeck: Und wie ist diese Situation derzeit in unseren Kindergärten?

Tietze: Sie ist unterschiedlich, weil viele dieser Schlüssel auch tatsächlich nur auf dem Papier stehen. Da ist eine Erzieherin krank, und dann gibt es keinen Ersatz dafür. Die eine ist schon in Schwangerschaftsurlaub gegangen, und die Ersatzkraft ist noch nicht da. Hinzu kommt auch, wie Kitas gewissermaßen den ja während des Tages unterschiedlichen Ansturm an Kindern sozusagen bewältigen, wie die Organisation da ist. Deswegen sagen wir, man muss sich tatsächlich vor Ort angucken, wie der Erzieher-Kind-Schlüssel zu bestimmten Tageszeiten jeweils ausfällt.

Von Billerbeck: Nun ist ja immer so allgemein die Ansicht verbreitet, dass es im Osten viel besser aussieht, weil es viel mehr Kitas gibt, weil es auch Krippen gab, Einrichtungen für Kinder unter drei Jahren. Ist diese Meinung richtig, oder sind die Ost-Kitas auch nicht besser als die West-Kitas?

Tietze: Es ist so, dass in der ehemaligen DDR es natürlich ein ausgebautes Krippenwesen gab und dass wir hier auch einen bedeutsamen Anteil an pädagogischen Personal haben, die tatsächlich erfahren sind im Umgang mit unter dreijährigen Kindern. Das ist gegenwärtig ein ganz großes Problem in den westdeutschen Flächenländern, wo man ja jetzt ausdehnen will im Hinblick auf Betreuung für unter dreijährige Kinder, und es kaum Erzieherinnen gibt, die dort wirklich Erfahrung haben. Auf der anderen Seite ist es so. Im Osten sind die strukturellen Bedingungen ungünstiger als im Westen, das, was ich eben sagte, Erzieher-Kind-Schlüssel und dergleichen.

Aber insgesamt werden wir zu befürchten haben, und das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen, wir werden zu befürchten haben, dass gegenwärtig etwas Ähnliches passiert bei den unter Dreijährigen wie in den 90-er Jahren im Kindergartenbereich. Es gab ja damals die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Platz. Das hieß, man musste neue Plätze schaffen. Aber die hat man nicht oder nur zu einem geringeren Teil durch Zufinanzierung geschaffen, sondern zu einem größeren Teil durch Entnahme von Mitteln aus dem bestehenden System.

Von Billerbeck: Das heißt, man hat die Last eigentlich den Erzieherinnen aufgebürdet, muss man es sagen, und den Eltern und vor allen Dingen den Kindern?

Tietze: Und vor allen Dingen den Kindern, das ist der spannende Punkt dabei. Und wir können eben nachweisen, dass die Verschlechterung solcher Bedingungen, Gruppengrößen, Erzieher-Kind-Schlüssel, dass das einen nachweisbaren Einfluss auf die Art der pädagogischen Prozesse hat, wie Erzieherinnen mit Kindern umgehen und auch einen Effekt auf die Kinder selber, auf ihre Entwicklungschancen.

Von Billerbeck: Nun wissen wir seit PISA und auch durch Untersuchungen von Hirnforschern, wie wichtig es ist, gerade die frühkindliche Bildung zu stärken. Es gibt auch Bildungspläne, das nimmt zu in den Kitas. Was steht eigentlich in diesen Bildungsplänen drin, und ist das eher pädagogische Prosa oder sind die schon ernst zu nehmen?

Tietze: Vom Anspruch her sind sie ernst zu nehmen, das ist gar keine Frage. Und es ist auch ein Fortschritt, dass sich die Jugendministerkonferenz und auch dann die Kultusministerkonferenz überhaupt darauf verständigt hat, denn das gibt es erst seit 2004. Welche Variabilität dadurch aber auch in Gang gesetzt wird, sieht man, wenn man sich die Pläne anschaut. Die reichen von einem Zwölf-Seiten-Papier bis zum 300-Seiten-Volumen, setzen auch unterschiedlich an. Aber im Grunde geht es gemeinsam dadrum, dass die Kinder in einem breiten Spektrum von Kompetenzen gefördert werden. Das fängt an von der Motorik bis zu Sozialerziehung, kognitive Förderung, Sprache.

Von Billerbeck: Das klingt so theoretisch. Wie müssen wir uns das praktisch vorstellen? Was muss in so einem Kindergarten, in so einer Kita für so kleinere Kinder vorhanden sein, woran Eltern das ja möglicherweise auch erkennen können?

Tietze: Das Wichtigste ist eigentlich, wie die Erzieherinnen mit den Kindern umgehen. Auch beispielsweise schon bei den ganz Kleinen im vorsprachlichen Stadium, dass Erzieherinnen wissen, ich kann mit dem Kind kommunizieren, auch wenn das sich selber noch nicht sprachlich äußert. Dass man Situationen, beispielsweise typische Pflegesituationen bei ganz kleinen Kindern, die Wickelsituation, dass man nicht nur als eine Situation betrachtet, möglichst schnell die vollen Windeln weg und die frische und Penatencreme dran, sondern dass das eine Interaktionssituation ist mit dem Kind, wo sich der Erwachsene dem Kind intensiv zuwendet. Das sind Dinge, die muss man lernen, die haben wir teilweise in unserem Verhaltensrepertoire drin, aber durch den Druck, durch den Zeitdruck häufig zu kurz kommen.

Von Billerbeck: Deutschlandradio Kultur. In unserer Themenwoche "Schule" sprechen wir mit Prof. Wolfgang Tietze. Der Bildungsforscher ist Experte für frühkindliche Bildung und lehrt an der Freien Universität Berlin. Herr Prof. Tietze, welche Folgen, welche langfristigen Folgen haben denn mittelmäßige Kitas oder schlechte Kitas für die Kinder?

Tietze: Wir haben es selber hier eine deutschlandweite Studie gemacht, die zeigt, dass wir Entwicklungsunterschiede von bis zu einem Jahr bei Kindern auf unterschiedliche Qualität der Einrichtung zurückführen können. Mal so gesagt, ein und dasselbe Kind aus derselben Familie stammt, hat in unserer pädagogisch schwächsten Einrichtung den Entwicklungsstand eines Vierjährigen, in unserer pädagogischen Top-Einrichtung den eines Fünfjährigen. Und jeder der Kinder in diesem Alter kennt, weiß, wie groß dieser Unterschied ist. Die Effekte gehen weiter.

Wir haben in der Grundschule deutliche Effekte, die auf die Qualität des Kindergartens zurückgehen. Und wir haben mittlerweile Längsschnittstudien über mehrere Jahrzehnte in den USA, die zeigen, dass sich gute Qualität in der frühkindlichen Bildung fortsetzt bis in das Erwachsenenalter. Wir haben Kosten-Nutzen-Analysen, die deutlich zeigen, die Investition in frühkindliche Bildung ist eine sehr nützliche und nachhaltige und lohnt sich für die Öffentlichkeit.

Von Billerbeck: Sie haben nun ein Qualitätssiegel entwickelt, das Deutsche Kindergartengütesiegel, mit dem Kindergärten auch werben können für ihre Qualität. Wie erreicht man denn dieses Qualitätssiegel, und wie war die Reaktion, wenn Sie da gekommen sind und Kindergärten ansehen, evaluieren wollten?

Tietze: Ja, das Erste ist, dass wir sagen, pädagogische Qualität ist tatsächlich messbar und ist nicht nur etwas Gefühltes, wo jeder eine eigene Meinung hat, sondern wir können Dimensionen bestimmen, auch erfassen, beobachten, von denen wir wissen, aufgrund dieser Dimension können wir den Entwicklungsstand und die Bildungsmöglichkeiten von Kindern vorhersagen. Pädagogische Qualität besteht sozusagen aus sehr vielen unterschiedlichen Facetten. Es gibt nicht sozusagen nur den einen Indikator.

Ich hatte eben schon paar Aspekte genannt, strukturelle Aspekte etwa. Wie ist das Personal ausgebildet? Reicht die Ausbildung, die wir gegenwärtig haben? Wie sieht es aus mit den Gruppengrößen, mit dem Erzieher-Kind-Schlüssel? Das sind alles Faktoren, die politisch zu regeln sind, die man auch feststellen kann und die einen deutlichen Einfluss haben. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass pädagogische Qualität nicht nur aus solchen Strukturen besteht, für die Politik verantwortlich ist, sondern auch bei gegebenen Strukturen kann Personal Unterschiedliches aus diesen Strukturen machen.

Von Billerbeck: Es reicht nicht, bloß kleine Gruppen einzurichten, sondern man muss auch die Inhalte verändern?

Tietze: So ist es. Die Inhalte verändern und auch sehen, wie sind die Interaktionen der Erzieherinnen mit den Kindern. Welche Anregung bekommen Kinder? Das ist eben das Interessante, auch Schwierige, an der frühen Pädagogik. Es geht nicht um Schulisches. Sondern es geht darum, das Kind in seiner eigenen Lebenssituation aufzusuchen und feinfühlig herauszufinden, was beschäftigt das Kind und das Kind bei diesem gewissermaßen durch Anregung zu unterstützen.

Von Billerbeck: In unserer Themenwoche "Schule" sprachen wir mit dem Bildungsforscher Prof. Wolfgang Tietze, der sich für ein Qualitätssiegel für Kindergärten aussprach. Alle Informationen finden Sie natürlich auf unserer Internetseite, und Sie können uns Ihre Meinung auch mailen unter der Mail-Adresse themenwoche.schule@dradio.de. Und es geht natürlich weiter bei uns. Heute Mittag, nach 13 Uhr, hören Sie den zweiten Teil einer Reportage aus einem Waldorfkindergarten in Stuttgart.