Packendes Hörbild über eine Gesellschaft im Krieg

13.07.2012
Das erschütternde Kriegstagebuch "Heeresbericht" war jahrelang vergessen, obwohl zeitgenössische Kritiker das Werk 1930 mit Remarques "Im Westen nichts Neues" verglichen hatten. Aufwändig mit 30 Sprechern produziert erscheint das Werk Edlef Köppens nun als Hörbuch - und es überzeugt und reißt mit.
"Mutiger, ehrlicher, schmutziger, moderner als Remarques 'Im Westen nichts Neues'" schrieb ein zeitgenössischer Kritiker über den Roman "Heeresbericht" von Edlef Köppen. Das Buch erschien 1930, nur um drei Jahre später von den Nazis verboten zu werden. Der spätere Journalist, Lektor und Rundfunkmann Edlef Köppen, Jahrgang 1893, hatte in "Heeresbericht" seine Erfahrungen als Freiwilliger im 1. Weltkrieg verarbeitet - vom ersten Tag der Mobilmachung bis zum bitteren Ende. Wie so viele war er anfangs auf das patriotische Hurrageschrei hereingefallen und schon kurz nach dem Abitur dem Ruf zu den Fahnen gefolgt.

"Heeresbericht" ist Autobiografie und erschütterndes Kriegstagebuch in einem. Neben Döblins "Berlin Alexanderplatz" gilt er als einer der ersten deutschen Montageromane: unkommentiert sind Reden des Kaisers, Reklame, Zeitungsartikel, Feldpostbriefe, Tagebuchnotizen, offizielle Verlautbarungen, Tagesbefehle und Totenzahlen in den Text eingestellt. Das kann man jetzt auch hören: Nach vier Jahren intensiver Arbeit hat nun der Hamburger Zeichner, Maler und Regisseur Andreas Karmers für die kleine Edition Apallon den ganzen "Heeresbericht" als ungekürzte Lesung mit dreißig Sprechern produziert. Eine gelungene späte Wiedergutmachung für den Autor und sein über Jahrzehnte vergessenes Werk.

"Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen usw. verordnen aufgrund des Artikels 68 der Verfassung des Deutschen Reiches, was folgt: Das Reichsgebiet wird hierdurch in Kriegszustand erklärt. "

1. August 1914 - Mobilmachung: Der Student Adolf Reisiger , geboren am 1. April 1893 zu Henthen, ist militärisch auf seine Militärdiensttauglichkeit untersucht worden. Befund:
"Größe 1.72,Fehler: 1 A 75 Plattfüße - Tauglich. "

Für den Kriegsfreiwilligen Adolf Reisiger verlief der erste Einsatz recht ernüchternd: lange Zugfahrt, endlose Fußmärsche, Gefechtslärm in der Nacht, Vorgesetzte, die ihn nicht beachten, dann Einweisung zur Munitionskolonne. Anfangs keine Kriegshandlungen, dafür Schikane: jeden Tag aufs Neue blitzblanke Munitionswagen waschen, exerzieren bis zum Umfallen. Erste Zweifel. Schließlich der Marschbefehl zur Feuerstellung der 1. Batterie:

"In der Luft ist unerwartet ein neues Sausen, scharf, laut, lauter, lauter - ein Einschlag! Dicht hinter ihm liegt Conrad, wälzt sich, röchelt, stöhnt wie ein krankes Tier. Hebt den Arm, lässt ihn fallen. Reisiger sieht: Conrads linke Hand ist an der Wurzel glatt abrasiert. Eine dicke Fontäne sprudelt aus dem Stumpf. Reisiger hat ein Zittern in den Knien, das ihn schüttelt. Und im Hals würgt was. Das also ist der Krieg! "

Peter Bieringer überzeugt als Adolf Reisiger: ruhig, sympathisch, lakonisch, unsentimental. Mit dreißig Sprechern hat Regisseur Karmers den gewaltigen expressionistischen Roman "Heeresbericht" in ein ebenso beeindruckendes Hörerlebnis verwandelt. Unter den üblichen Verdächtigen im Hörbuchgewerbe sucht man die Namen der Sprecher übrigens vergebens. Vielleicht klingen sie deshalb so unverbraucht und uneitel, engagiert und ganz dem Text verpflichtet:

"Trotz Feinden ringsum ist und bleibt Myrrolin-Seife unverändert wie seit 20 Jahren die bekannte einzigartige Gesundheitspflege zu Hause und im Felde."

Die in die Erzählung montierten Reden, Aufrufe, Briefe, Flugblätter, die Zeitungsartikel und Werbesprüche, bekommen ihre je eigene, unverwechselbare Stimme.

Die dreizehnstündige Lesung von "Heeresbericht" wird so zu einem packenden Hörbild über eine Gesellschaft im Krieg. Man wünscht ihm das große Publikum, das dem Roman zu Unrecht versagt geblieben ist:

"Schnellfeuer": Die Wut der Menschen überträgt sich auf die Geschütze. Sechs metallene kalte Rohre geben mit Sachlichkeit sechs mal in sechzig Sekunden den Tod von sich. Nach kurzem fauchen sie weißlichen Dampf, schwitzen wie die Menschen, die arbeitenden Menschen an der Maschine. Dann bekommt die Maschine Blut: die Rohre sind heiß wie Fieber."

Solch ausdrucksstarke Passagen bleiben noch lange im Ohr, und sie lassen keinen unberührt:

"Das Pferd schlägt mit dem Kopf. Eine Lunge hängt ihm aus der Brust, keuchend aufgepustet, das Zahnfleisch hochgerissen, große gelbe Zähne entblößt, mit einem Blutstrahl aus der Brust und aus den Winkeln des Mauls. "Armer Heubauch!"

Aus jedem Satz spricht Köppens großes Mitgefühl für das Leiden von Mensch, Natur und Tier in dieser grausamen Schlacht. Und selten wohl fand ein Autor so berührende Worte für die Liebe inmitten des Grauens:

"Ein Mädchen, mich geküsst - Himmel, was soll denn Krieg, wo ein Mädchen mich geküsst hat, ein Mädchen ich geküsst habe... und dabei brennt da vorn die ganze Hölle"

Und während die Hölle immer weiter brennt, träumt sich der Freiwillige Adolf Reisiger aus ihr fort:

"Einen Tag lang in Stille untergehen!
Einen Tag lang den Kopf in Blumen kühlen
und die Hände fallenlassen
Einen Tag lang nicht töten. "

Im Sommer 1918, kurz vor dem Waffenstillstand, zieht der Kriegsfreiwillige Adolf Reisiger die Konsequenzen, nennt den Krieg ein "sinnloses Verbrechen" und verweigert den Befehl. Er wird verhaftet - und kommt ins Irrenhaus.

"Der Kranke schläft nicht, isst nicht, sieht starr vor sich hin. Wenn man mit ihm redet, hat er ständig nur einen Satz zur Antwort: "Es ist ja immer noch Krieg. Leckt mich am Arsch. "

Besprochen von Sigrid Menzinger

Edlef Köppen: Heeresbericht
Ungekürzte Lesung Regie: Andreas Karmers, 30 Sprecher, 11 CDs, 880 Minuten, Edition Apallon, 39,90 Euro

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