Outtakes (5)

Im Flur

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Lutz Hübner über die Gedanken beim Treppensteigen. © dpa / picture alliance / Robert Schlesinger
Von Lutz Hübner · 17.04.2015
"Outtakes" ist ein Gastbeitrag des Dramatikers Lutz Hübner. Die Texte sind nach Notizen, Stichwörtern und Skizzen entstanden. Heute geht es um philosophische Grundfragen, an denen der Autor scheitert während er die Treppe zur eigenen Wohnung hochgeht.
An der Tür kleben Zettel, die für eine Nachbarschaftsinitiative werben, dazu Flyer von dubiosen Umzugsunternehmen und ein Wohnungsgesuch, das hundert Euro Belohnung bei erfolgreicher Vermittlung verspricht, was irgendwie unangenehm wirkt, unsportlich, korrupt, keine Ahnung, dann geht es vorbei an dem Kinderwagen, in dem ein Stapel Pizzaflyer liegt. Auf dem Treppenabsatz ein kaputter Stuhl, der hier auf dem Weg in den Keller oder zur Müllkippe gestrandet ist. Jetzt scheint auf einmal die Sonne durch das Flurfenster, das erste Licht an einem grauen Tag, irgendwo telefoniert jemand und plötzlich ist da der Gedanke, wie es möglich sein kann, dass es dieses Bewusstsein, welches das alles registriert, irgendwann nicht mehr geben wird.
So empörend dieser Gedanke ist, er ist zuerst einmal nicht zu fassen. Man kann die eigene Abwesenheit nicht denken. Das ist kein neuer Gedanke, noch nicht einmal ein besonders origineller, aber hier auf der Treppe zur eigenen Wohnung ein quälender. Manche dieser Gegenstände werde ich überleben, wie zum Beispiel den Stuhl oder die Zettelcollage auf der Haustür, andere habe ich schon überlebt, zum Beispiel die Geranie auf dem Treppenabsatz zum zweiten Stock. Es ist trotzdem kein tröstlicher Gedanke, denn wenn es schlecht läuft für mich, überlebt mich sogar die Windeltüte, welche die Kleinfamilie im zweiten Stock immer vor die Tür stellt. Wobei das für die Windeltüte höchstwahrscheinlich keinen Triumph darstellen würde.
Philosophische Grundfragen
Irgendwann bin ich nicht mehr da. Bin ich weg und es gibt kein Ich mehr, das dies registrieren kann. Oder ich bin jetzt schon weg oder bin kurz davor und durchlebe gerade mein Leben im Schnelldurchlauf in den berühmten letzten drei Minuten, wobei vielleicht die Zeiteinheit falsch ist, vielleicht dauert das ursprüngliche Leben tausend Jahre und der Schnelldurchlauf die normale Lebenszeit eines Menschen und wir haben keine Erinnerung an den ursprünglichen Verlauf, außer in den kurzen Momenten, die man Déjà-vu nennt. Natürlich führt dieser Gedanke zu nichts und ich weiß nicht, warum ich auf dem Weg in den vierten Stock an einem normalen Tag plötzlich grandios an philosophischen Grundfragen scheitere, anstatt darüber nachzudenken, was ich den Rest des Nachmittags noch alles mögliche erledigen könnte.
Hinter der Tür im dritten Stock brüllt wieder dieses Kind, dessen Namen ich mir einfach nicht merken kann, dann brüllt die Mutter zurück und ich denke, dass die beiden im Moment eine übersichtlichere Problemlage haben als ich, wobei die Erkenntnis, dass man irgendwann nicht mehr da ist, ja nicht wirklich ein Problem ist, sondern nur eine Tatsache, mit der man irgendwie umgehen muss und der einzige Sinn der Religion ist ja, dass man irgendjemanden hat, mit dem man sowas in stiller Zwiesprache verhandeln kann. Wobei da wahrscheinlich die Hoffnung mitschwingt, dass bei einem günstigen Gesprächsverlauf die Bedingungen in einem möglichen Jenseits angenehmere sind als bei denen, die sich einen feuchten Kehricht um das Nachleben ihrer unsterblichen Seele scheren. So wie ich. Normalerweise.

"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Darin bitten wir Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text, in dem sie kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.

Lutz Hübner
wurde 1964 in Heilbronn geboren und wuchs in Weinsberg auf. Hübner studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie an der Universität Münster und absolvierte eine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Saarbrücken.

Für besondere Verdienste um das Kinder- und Jugendtheater erhält der Dramatiker den ASSITEJ-Preis 2011 der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche (ASSITEJ) Deutschland.

Der INTHEGA-Sonderpreis des Vorstands wurde 2014 an Hübner verliehen. Die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e.V. (INTHEGA) verleiht ihre Preise in Karlsruhe.

© dpa / pa / Galuschka
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