Outtakes (3)

Neue Worte

Das Wort "Alphabet", zusammengesetzt aus Buchstaben-Nudeln
Das Wort "Alphabet" aus Buchstaben-Nudeln - es können auch neue Wörter gelegt werden. © picture alliance / Universität Jena
Von Lutz Hübner · 15.04.2015
Der heutige Originalton ist entstanden aus Notizen, Stichwörtern und Skizzen. Dramatiker, Schauspieler und Regisseur Lutz Hübner hat Gedanken formuliert, die wohl nie Eingang in irgendein Stück finden werden. Heute geht es um Wörter, die ihre Bedeutung wechseln.
In meiner Jugend fühlte man sich geschmeichelt, wenn andere Menschen, vor allem Frauen, einen als sensibel bezeichnete, es bedeutete, dass man einfühlsam ist, Stimmungen erspüren kann, eine zumindest rudimentäre Ahnung von den Feinheiten der weiblichen Psyche hat und als Gesprächspartner und Teetrinker satisfaktionsfähig ist. Der sensible Mann war der neue Mann und nicht zufällig fällt die Hochkonjunktur des Begriffs in die Zeit, in der Ina Deter forderte, dass das Land neue Männer braucht. Von anderen Männern als sensibel bezeichnet zu werden war nicht immer frei von dem Unterton, kein wirklich hundertprozentiger Kerl zu sein. Dafür ist er zu sensibel hieß übersetzt, das packt der nicht, der hat keine Eier in der Hose.
Das gesellschaftliche Aus war es, zumindest in Männerhorden, als Sensibelchen' bezeichnet zu werden. Aber der positive Beiklang überwog, kein Mann beschwerte sich, wenn er von seiner Angebeteten als sensibel bezeichnet wurde, es war der halbe Weg zu ihrer Gunst. Irgendwann hatte sich das Wort durch übermäßigen Gebrauch abgenutzt und rundgeschliffen, eine Weile stand die Formulierung "Damit müssen wir sensibel umgehen" für Vorgehensweisen, in denen man behutsam und mit halben Wahrheiten aus der Schusslinie kommt. Dann verschwand es, besser gesagt, es wurde in die Sklaverei verkauft und fristet nun sein Dasein in der Werbung, wo es über einige Abstiegsetappen in der Kosmetikbranche letztendlich da landete, wo es bis heute schmachtet – im Gebiss. Sensibel sind heute nicht mehr die Jungs mit den goldenen Locken und dem sanften Blick, sondern Zahnhälse. Sensible Zähne sind die, welche bei starken Temperaturunterschieden im Mundraum wüste Schmerzkanonaden feuern, sensibel ist ein anderes Wort für empfindlich, nicht ganz in Ordnung und damit anstrengend.
Ein Wort geht, ein neues kommt
Aber wo ein Wort geht, kommt ein neues durch die Tür und manchmal sind das ganze alte Worte, die lange in der Verbannung gelebt haben. Die sensible Leerstelle wurde von einem Wort gefüllt, was quasi noch mit der Pickelhaube auf den Konsonanten in den heutigen Sprachgebrauch zurückgestolpert kommt. Achtsam. Willkommen zurück, Achtsam. Nun riecht das Wort nach Ayurveda, nach ätherischen Ölen und klingt nach der ohrenschmeichelnden Weltmusiksoundtapete von Yogazentren. Es gibt Institute für Achtsamkeit und alles, was der sanften Erholung von Körper und Geist dient ist nun 'achtsam', wobei seine Geschwister 'sorgsam' und 'behutsam' mit aufs Familienfoto dürfen, weil sie genauso wohlerzogen und freundlich sind wie ihr großer Bruder 'achtsam'.
Achtsam hat den Vorteil, nie in der Kariesprophylaxe zu landen, denn achtsame Zahnhälse wird es wohl nie geben. Auch ein abwertender Diminuitiv ist ausgeschlossen, ein Achtsämchen ist nicht beleidigend und in Männerhorden wird niemand vom Fußballspiel ausgeschlossen werden, weil er zu achtsam ist. Das Wort ist stabil, multikompatibel, klingt nach gesunder Lebensweise und Schonung der Ressourcen. Es schafft einen Ausgleich in einer als hektisch und rücksichtslos empfunden Zeit, weswegen es selten von unter 20-Jährigen verwendet wird. Wir werden uns daran gewöhnen müssen. Gehen wir sorgsam mit ihm um, seine Zeit bricht gerade erst an.

"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Darin bitten wir Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text, in dem sie kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.

Lutz Hübner
wurde 1964 in Heilbronn geboren und wuchs in Weinsberg auf. Hübner studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie an der Universität Münster und absolvierte eine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Saarbrücken.

Für besondere Verdienste um das Kinder- und Jugendtheater erhält der Dramatiker den ASSITEJ-Preis 2011 der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche (ASSITEJ) Deutschland.

Der INTHEGA-Sonderpreis des Vorstands wurde 2014 an Hübner verliehen. Die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e.V. (INTHEGA) verleiht ihre Preise in Karlsruhe.

© dpa / pa / Galuschka
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