Osteuropa

Blockbildung

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Seit Litauens EU-Beitritt 2004 ist das auch die Außengrenze der Europäischen Union © picture alliance / dpa / Dieter Ebeling
Von Ernst Ludwig von Aster und Anja Schrum · 28.11.2013
Die Ukraine hat der EU gerade den Rücken gekehrt und Weißrussland ist eine Diktatur. Nachbarland Litauen leidet darunter, dass in der Region eine Blockbildung stattfindet, die zur Trennung von Familien und Nachbarn führt.
Stas schärft sein Messer, fährt prüfend mit dem Daumen über die Klinge. Tania schleppt Wasser in einem verbeulten Zinkeimer heran. Hinter dem Schuppen liegt ein geschlachtetes Schwein, festgezurrt auf einer Holzleiter. Schlachttag im kleinen litauischen Örtchen Norviliskes. Direkt an der weißrussischen Grenze. Schwester und Schwager des Rentnerpaares sind extra aus dem 90 Kilometer entfernten Vilnius gekommen, um mit anzufassen.
"150 Kilogramm wiegt die Sau bestimmt", schätzt Stas. "Mindestens 200", widerspricht seine Schwester. Ihr Bruder grinst, tippt sich an die Stirn. Was verstehen Städter schon von Schweinen.
Stas wischt das Messer an der alten Arbeitshose ab. Beginnt routiniert die abgeflämmten Borsten von der Schwarte zu schaben.
"Eine Kuh, ein paar Schweine und ein Pferd. Das ist alles, was wir haben", erzählt er. Dazu noch das alte gelbe Holzhaus, die beiden kleinen windschiefen Ställe, ein bisschen Ackerland. Stas und seine Schwester Valentina sind auf dem Bauernhof aufgewachsen. Ein Stückchen weiter beginnt Weißrussland:
"Eine Grenze gab es damals noch nicht. Da hinten war Weißrussland. Da konnten wir uns frei bewegen, wie in unserem eigenen Dorf. ... Es war doch alles eins. Die Schwester meines Vaters, wohnte drüben im Dorf, in Weißrussland."
Ein Grenzzaun teilt die Dörfer
Sie leben in Norviliskes, Litauen, die Tante in Pizkuny, Weißrussland. Zwei Nachbarorte, die sich über Jahrzehnte eine Kirche und einen Friedhof teilten. Heute teilt ein Grenzzaun die beiden Dörfer. Und Norviliskes liegt an der EU-Außengrenze.
Gerade verhandeln die europäischen Staatschefs in Vilnius mit Vertretern der Nachbarländer über die "östliche Partnerschaft". Auch mit Weißrussland. Die EU fordert Zugeständnisse in Sachen Demokratie und Bürgerrechte. Und bietet im Gegenzug Handels- und Reiseerleichterungen. Ein Poker auf diplomatischem Parkett, der nicht immer im Sinne der EU funktioniert. Die Ukraine hat sich gerade der anderen Seite, nämlich Russland zugewandt.
Stas legt das Messer beiseite. Fingert eine Schachtel Zigaretten, Marke Minsk, aus der Jackentasche. Schmuggelware aus Weißrussland.
"Es ist schlimm", schimpft er. "Man kann nicht mehr nach Pizkuny gehen". Der nächste Grenzübergang ist weit entfernt, ein Visum kann er sich nicht leisten. Die Schwester nickt zustimmend. Sie lebt schon lange in Vilnius. Arbeitet jedes Jahr vier Monate in Belgien, damit die Familie über die Runden kommt.
Was vom Dorf übrig geblieben ist
"Hier geht alles kaputt. Das Dorf stirbt langsam aus. Sehen sie, wer hier noch lebt: Mein Bruder ist über 50, mit seiner Frau. Die ist ein bisschen jünger. Unser Nachbar ist behindert. Dahinter wohnt ein Rentner. Ein Haus weiter, wohnt meine alte Schulfreundin, die ist auch schon über 50. Im Haus daneben lebt noch eine Rentnerin... Das ist alles, was vom Dorf übrig geblieben ist..."
Der Rentner drückt die Zigarette aus. Greift wieder zum Messer und beugt sich über das Schwein. "Jeder ist hier auf sich allein gestellt," grummelt er. Der einzige Treffpunkt ist die Kirche. Und der Friedhof…
Am nächsten Tag ist Gottesdienst. Pkw rollen über die einsame Sandstraße von Norviliskes, Richtung Kirche. Ein altes Mütterchen im Sonntagsmantel, mit geblümtem Kopftuch, eine Handtasche über den Arm, tippelt am Straßenrand entlang.
"Können Sie mich mitnehmen?", fragt sie. Ihre Beine schmerzen, erzählt die 72-Jährige. Jedes Wochenende läuft sie gut eine Stunde bis zur Kirche. Und zurück. Da freut sie sich über jede Mitfahrgelegenheit.
Auf einer Anhöhe thront die alte, lindgrüne Holzkirche. Gleich daneben am Hang liegt der Friedhof: Hunderte von Grabsteinen. Eingezwängt im rechten Winkel zwischen Grenzzäunen. "Staatsgrenze" mahnen gelbe Warnschilder rechts und links vom Gräberfeld.
Stas und Tania kommen den Sandweg entlang. Auch Valentina, die Schwester ist mitgekommen. Sie kostet der Gang zur Kirche jedes Mal Überwindung. Vor zwei Jahren starb ihre Tante. Drüben in Pizkuny, in Weißrussland, auf der anderen Seite vom Zaun…
"Das ist doch nicht normal"
"Wir konnten sie nicht hier auf dem Friedhof beerdigen. Sie wurde in Weißrussland bestattet. Obwohl ihr Vater, ihre Mutter und ihre Schwestern, also die ganze Verwandtschaft, auf diesem dem Friedhof liegt. Auch ihr Mann ist hier begraben. Er starb, als es diese Grenze noch nicht gab. Die Tante aber durften wir hier nicht begraben."
Drüben, im weißrussischen Wald, klopft ein Specht. Auf dem litauischen Friedhof zwitschern Vögel. Auf einem Sockel glänzt weiß eine Madonnen-Statue. Mit ausgebreiteten Armen blickt sie über den Grenzzaun. Nach Weißrussland. Valentina schüttelt resigniert den Kopf.
"Das tut einfach weh. Wir sind doch alle gemeinsam hier aufgewachsen. Manchmal sehe ich meine Cousinen an einem Feiertag. Dann kommen sie an den Grenzzaun. Und dann können wir uns unterhalten. Aber so etwas ist doch nicht normal, das darf doch nicht sein."
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