Osteuropa

Besonnener Blick auf die östlichen Nachbarn

Meistar Straße in der Altstadt von Riga, mit Blick (rechts) auf eine Wandmalerei.
Meistar Straße in der Altstadt von Riga © picture alliance / dpa / Valda Kalnina
Von Markus Reiter · 09.02.2014
Wie die Länder im Osten Europas wirklich ticken, erfährt man in Karl Schlögels Sammlung von Reden und Essays. Er hat die Orte bereist, von denen er spricht. Mit Weitblick und Gelassenheit schreibt er über den europäischen Geist abseits der Brüsseler Politik.
Karl Schlögel gehört zu den führenden Intellektuellen Deutschlands, die schon lange vor der Zeitenwende des Jahres 1989 den Osten Europas in den Blick genommen hatten. Er durchreist seit Jahrzehnten den Kontinent, vor allem seine östliche Hälfte, und besucht Busbahnhöfe und Grenzübergangsstellen, Gedenkstätten und Kulturfestivals – Orte also, an denen sich der Geist Europas jenseits Brüsseler Politik manifestiert.
"Grenzland Europa" ist eine Sammlung von Reden und Essays, die Schlögel in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten gehalten oder geschrieben hat. Sie zeichnen sich durch Weitblick und Gelassenheit aus. Der Geschichtswissenschaftler entzieht sich der tagespolitischen Aufgeregtheit, ohne in eine Mitteleuropa-Entrücktheit abzugleiten. Ein Beispiel für diese Gelassenheit findet sich gleich im ersten Vortrag des Buches, zur Eröffnung des internationalen Literaturfestivals in Berlin im September 2012, also mitten in der Eurokrise:
"Ich halte die defensive Fahrweise, das Sich-Einstellen auf die je andere Seite, die Vermeidung von Panik und Hysterie für eine Errungenschaft unserer europäischen Kultur. Solange es keine überzeugenden Antworten gibt, muss man sich tastend vorwärtsbewegen, abwägen, ruckartige Bewegungen vermeiden, Zeit gewinnen. Der angemessene Bewegungsmodus ist nicht der kurze Prozess oder das visionäre Projekt, sondern muddling through, Sich-Durchwursteln."
Neue Einsichten
Dieser besonnene Ton ist typisch für Schlögel. Er schreibt ein gediegenes Deutsch, dessen Getragenheit nur gelegentlich ein wenig manieriert wirkt. Zu seinen liebsten Begriffen gehört die longue durée. Diese von dem französischen Historiker Fernand Braudel geprägte Formulierung bezeichnet die langsame, sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte erstreckende Entwicklung, innerhalb der sich gesellschaftliche und politische Strukturen dauerhaft verändern. Im Gegensatz dazu steht das Tagesereignis, die courte durée. Nur wer einen Schritt zurücktritt, erkennt dabei, wie sich das Neue vor unseren Augen aus diesen Tagesereignissen herausbildet.
Das erlaubt Karl Schlögel neue Einsichten. So entdeckt er zum Beispiel bei den Scharen westlicher junger Menschen, die mit Billigfliegern und Billig-Autobuslinien in Berlin, Riga oder Tallinn einfallen und per Sauftour von Party zu Party schlingern, eine "Einübung in Grenzüberschreitungen". Vielleicht, so hofft der Autor, wird bei ihnen eine Erinnerung hängen bleiben, dass es im östlichen Europa etwas Neues zu sehen und zu erleben gibt. Vielleicht entdecken manche einen Teil des Alten Kontinents, der für sie unbekannt und interessant ist. Man habe es womöglich nur mit einer anderen Art zu tun, sich die Welt anzueignen.
"Nicht alle Wege führen über Brüssel oder Straßburg"
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Cover: Grenzland Europa© Hanser Verlag
Diese Sichtweise kontrastiert angenehm mit dem Europa-Pessimismus und -Defätismus, der im Augenblick in der politischen und intellektuellen Debatte so en vogue ist. Schlögel spielt das organisierte Europa auch nicht gegen einen kulturellen oder historischen Europabegriff aus, wie das einige konservative EU-Kritiker gerne tun. Er schreibt:
"Europa braucht Brüssel und die Europäische Zentralbank und das Parlament, aber nicht alle Wege führen nach und über Brüssel, Frankfurt oder Straßburg, nicht einmal über die europäischen Hauptstädte. Und doch hält Europa irgendwie zusammen, nicht dank guter Absichten und Proklamationen, sondern dank funktionierender Routinen, eingespielter Praktiken, einer Arbeit, die Tag für Tag, jahraus, jahrein, ganz unspektakulär getan wird."
Der Osteuropahistoriker lässt den Leser die Verbindungen zwischen der Rolle der Topographie und den geistigen Topoi einer Gesellschaft erkennen. Zu seinen liebsten Stilmitteln gehört es, die Namen osteuropäischer Städte aneinander zu reihen. Und so werden aus Ortsnamen geistige Landschaften: Gdánsk und Lwiw, Timisoara und Dnepropetrowsk, Galizien und Pommern.
Den geistigen Reichtum Europas nicht leichtfertig verspielen
Überhaupt: Topografie und Geschichte. Karl Schlögel spricht auch über den russischen Raum. Er erzählt davon, wie er in Berlin am Schalter der Deutschen Bahn eine Fahrkarte kauft von Bahnhof Zoo nach Irkutsk. Abfahrt Berlin: Mittwoch, 15.07 Uhr. Ankunft Irkutsk: Dienstag, 23.20 Uhr. Eingängiger kann man kaum deutlich machen, wie sehr ein Land wie Russland durch seine Weite, seine Entfernungen geprägt ist. Und doch: Was uns so fern scheint, kann ganz nah sein.
"Eine Reise in oder durch den russischen Raum ist zugleich eine Reise in die Zeit, die uns aufklärt darüber, dass Raum ohne Zeit und ohne Geschichte nicht zu haben ist. Wir passieren Orte wie Njegoreloje, das einmal für Feuchtwanger und Roth das Tor war, durch das sie in eine angeblich neue Welt fuhren. Der Zug passiert in der Gegend von Smolensk einen Bahnhof mit Namen Katyn – also jenen Ort, an dem 1940 Tausende von polnischen Offizieren ausstiegen, ohne zu wissen, dass sie dort abgeschlachtet werden würden."
Karl Schlögel erinnert uns daran, dass die eigentliche Wende Europas nicht die Eurokrise ist, nicht irgendein kleinteiliger Streit mit der Europäischen Kommission oder der EZB. Das Wendejahr war 1989. Was Europa seit damals – nach den Wirren des 20. Jahrhunderts – an geistigem Reichtum wiedergefunden hatte, sollten Politiker und Öffentlichkeit heute nicht leichtfertig verspielen.

Karl Schlögel: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent
Hanser Verlag
352 Seiten, 21,90 Euro, als E-Book 16,99 Euro