Donnerstag, 28. März 2024

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Realitäten und Zustände
Durchschnitt

Dirk von Gehlen leitet die Abteilung Social Media und Innovation der "Süddeutschen Zeitung" und beschäftigt sich mit der digitalen Transformation von Kultur und Gesellschaft. Im Dlf plädiert er für einen neuen Kunstbegriff, der sich vom "Original"-Gedanken emanzipiert und einen individualisierten Zugang zu Kunst ermöglicht.

Dirk von Gehlen im Gespräch mit Barbara Schäfer | 31.12.2017
    Die Werke Venus von Yin Xin (l.) und von Andy Warhol in der Ausstellung "The Botticelli Renaissance" in der Gemäldegalerie in Berlin. Die Ausstellung kann vom 24. September 2015 bis zum 24. Januar 2016 besichtigt werden.
    Kopieren als Kulturtechnik: Dirk von Gehlen bricht eine Lanze für das Adaptieren von Kunst (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Irgendwo zwischen Massenmedien und Massenkultur, Digitalisierung, Datennutzung und deren Folgen erweitert sich die Welt des Durchschnittsangebots, das für alle gleich ist, um das digitale Prinzip der Personalisierung: Inhalte entstehen nicht mehr einzig beim Hersteller und Absender, sondern werden mittels Datensammlung und -auswertung auf den Konsumenten und Empfänger zugeschnitten. Entgegen der vorschnellen Verteufelung dieser Entwicklung als Entmündigung und Überwachung, beleuchtet Dirk von Gehlen Chancen des Endes des Durchschnitts und zeigt sehr konkret, wie Personalisierung, Datennutzung und Digitalisierung die Arbeit von Medizinern, Marktforschern, Fußballern und Carsharing-Anbietern verändern.
    Dirk von Gehlen, geboren 1975, ist Journalist, Buchautor und Crowdfunding-Pionier. Er war Chefredakteur von jetzt.de und leitet heute bei der Süddeutschen Zeitung die Abteilung Social Media/Innovation. Auf digitale-notizen.de bloggt er über die Veränderungen der Medienlandschaft.
    Barbara Schäfer, geboren 1961, ist Redakteurin von "Essay und Diskurs" und Leiterin der Abteilung Feature/Hörspiel/Hintergrund Kultur im Deutschlandfunk.

    Barbara Schäfer: Dirk von Gehlen ist Journalist in München, er war Redaktionsleiter des Online-Magazins jetzt.de, leitet heute bei der Süddeutschen Zeitung die Abteilung Social Media und Innovation. Ansonsten notiert Dirk von Gehlen in seinem Blog "Merkwürdigkeiten aus der Medienwelt" und er "beobachtet die digitale Transformation von Kultur, Gesellschaft und Unternehmen" - das zitiere ich jetzt von Ihrer Seite - und er schreibt darüber Bücher. Anfang 2017 ist "Meta! Das Ende des Durchschnitts" im Verlag Matthes & Seitz erschienen. Wir werden also heute möglicherweise eine ganz andere Lesart oder andere Definition des Begriffs Durchschnitt kennenlernen, als Sie das vielleicht gewohnt sind.
    Schon 2011 erschien bei Suhrkamp Ihr Buch "Mashup. Lob der Kopie". Die digitale Kopie, über die Sie dort schreiben, ist die historische Ungeheuerlichkeit, die die Menschheit erstmals in die Lage versetzt, digitalisierte Inhalte verlust- und nahezu kostenfrei zu duplizieren. Ich glaube, wir können das alle gut nachvollziehen. Was war damals Ihr Gedanke und Anlass, sich hinzusetzen, um diese These zu verfolgen und als Buch festzuhalten?
    Kopieren als Kulturtechnik
    Dirk von Gehlen: Das Buch war so ein bisschen Ergebnis von fünf bis sieben Jahren Arbeiten im Internet, Arbeiten mit dem, was man damals so "Digital Natives" nannte, Menschen, die sich ungehörigerweise Sachen aus dem Internet kopierten. Da gab es so einen Generationenbruch. Ich fand, diese Leute, zu denen ich mich selber auch zählte, wurden ein bisschen ungerechtfertigterweise moralisch beschimpft für etwas, was in den Generationen davor eine Kulturtechnik war - nämlich das Adaptieren und Sich-Zurechtfinden in popkulturellen Welten. Das passierte in der Welt von Nick Hornby über Mixtapes, da gibt es große Hymnen und Bücher. In der Welt der digitalen Kopien war das dann moralisch verwerflich und die popkulturellen Vorbilder, die man davor noch hatte - Sven Regener ist da ja sehr bekannt geworden -, drehten sich auf einmal zu Moralaposteln für Sachen, die ich nicht nachvollziehen konnte.
    Dirk von Gehlen, Leiter Social Media / Innovation, Süddeutsche Zeitung spricht am 10.06.2015 in Köln auf dem Medienforum NRW / Interactive Cologne
    "Unkopierbares Erleben in den Mittelpunkt rücken": Der Journalist und Autor Dirk von Gehlen (dpa / picture alliance / Horst Galuschka)
    Ich kann den Impuls nachvollziehen, halte aber das Ergebnis für zu kurz gesprungen. Und habe dann festgestellt, wir müssen wahrscheinlich erst mal analysieren, was diese digitale Kopie bedeutet, bevor wir sie bewerten. Und das ist tatsächlich so ein Muster, das sich dann durch mein Schreiben durchgezogen hat, dass ich Sachen verstehen wollte, dass ich nicht den naheliegenden Urteilen folgen wollte, sondern verstehen wollte: Warum ist das denn so?
    Und ich glaube, dass wir das bis heute nicht richtig durchdrungen haben, was Digitalisierung heißt, dass wir nämlich - deswegen wähle ich diesen Begriff der historischen Ungeheuerlichkeit - erstmals in der Menschheitsgeschichte Vorlage und Vervielfältigung nicht mehr unterscheiden können. Aber die gesamte Kunstgeschichte der letzten 500 Jahre basiert eigentlich darauf, dass das Original erkennbar ist und dann dadurch auch verwertbar. Und wenn das nicht mehr gegeben ist, kann man sich daran abarbeiten, dass man das irgendwie ärgerlich findet, oder man kann sagen: Was bedeutet das denn für eine Chance, was bedeutet das für eine Möglichkeit, was geht da denn eigentlich für eine Welt drin auf? Und ich habe dann versucht, mich in diese zweite Richtung zu bewegen, und deswegen heißt das Buch "Lob der Kopie", weil ich sozusagen provozieren wollte gegen den Trend, den es damals gab, zu sagen: 'Das Kopieren ist böse, das ist gar keine Kunstform'.
    "Wir leben in einer wahnsinnig spannenden Zeit"
    Ich habe dann festgestellt, dass das Gegenteil richtig ist, dass man von van Gogh bis da Vinci sehen kann, wie das Kopieren für große Künstler immer ein wichtiger Orientierungsmaßstab war. Und durch das Digitale ist es einfach noch präsenter geworden und dadurch kann es ja nicht falscher werden. Vielleicht ist das eine wahnsinnig spannende Zeit, in der wir gerade leben, und wir stellen es gar nicht fest oder wir merken es gar nicht richtig, weil wir es immer sozusagen so bewerten aus dem, was wir in den '70ern für richtig hielten.
    Schäfer: Und wir hielten das Original bis vor relativ kurzer Zeit für das einzig Wahre und Richtige.
    von Gehlen: Ich würde ja sogar sagen, dass wir das in weiten Teilen gesellschaftlich heute noch so tun, also dass ganz große Teile, wenn man sich den gesamten Kunstmarkt anguckt, diese Summen, die da bewegt werden … Die werden ja, wenn man es böse sagen will, einfach nur auf Basis eines sozialen Konstrukts bewegt, weil man einem Werk diesen Originalcharakter zuschreibt.
    Schäfer: Sie haben dieses wunderbare Beispiel des Malers Banksy in Ihrem Buch festgehalten.
    von Gehlen: Genau …
    Schäfer: Erzählen Sie es selbst!
    von Gehlen: Bei Banksy kann man das wahnsinnig schön illustrieren, dieser Graffitikünstler aus dem Vereinigten Königreich hat mal im Central Park in New York Originale von sich verkauft, und zwar im Kontext von vermeintlichen Fälschungen. Er hat einen Stand aufgebaut, einen Typen mit so einer Freizeitweste hingesetzt und der verkaufte original Banksys, die man, wenn man sie ersteigern würde, den hundertfachen Wert dessen, was er dafür aufgerufen hat, eigentlich bekommen könnte. Er hat dann am Ende … Dieser Mensch hat dann … Das Ganze wurde gefilmt, man kann sich das auch online dann angucken, also der Verkauf selber war eine Kunstwerkinszenierung. Er hat dann am Ende exakt zwei Bilder verkauft, aber auch nur, weil der Verkäufer sozusagen den 50-prozentigen Preisnachlass gewährt hat. Und diese Kontextschaffung, also dass man gar nicht mehr sagt, der Inhalt, das Werk schafft den Wert, sondern der Rahmen, in dem wir es wahrnehmen …
    "Das Konstrukt vom Original erodiert gerade"
    Es gibt auch tolle Geschichten von Violinisten, die dann in der Washingtoner U-Bahn spielen und man denkt aber, es kann ja nicht wertvoll sein, weil der Kontext falsch ist … Das zeigt eigentlich sehr schön, wie dieses Konstrukt vom Original gerade sozusagen erodiert. Und das Spannende ist, wie damit Autoritäten, klassische Bildungsmuster erodieren und Leute, die sich eigentlich für gesellschaftlich angekommen hielten, die mit Doktor- und Professorentiteln ausgestattet sind, sich auf einmal neu begründen müssen und dazu vielleicht wenig Lust haben. Das finde ich das gesellschaftlich Spannende, was da gerade passiert.
    Schäfer: Das Spannungsfeld.
    von Gehlen: Das Spannungsfeld.
    Schäfer: Aber bleibt es dann nicht doch immer eine kommerzielle Sache? Also sobald jemand mit dem Original sozusagen wirklich Geld verdient, vielleicht nicht reich werden kann, aber davon leben kann, im besten Falle reich werden kann, wird doch der Anspruch bleiben, ans Original?
    von Gehlen: Das ist richtig, und deswegen habe ich dann versucht, darauf aufbauend einen nächsten Schritt zu gehen und zu sagen: Es reicht mir nicht, das nur zu beschreiben und mich sozusagen in ein intellektuelles Suhrkamp-Kämmerlein zu begeben, sondern ich möchte das jetzt ausprobieren. Also ich kann nicht nur sagen, da liegen Chancen drin, sondern ich muss das jetzt auch machen. Und habe dann ein Buch im Crowdfunding finanziert, habe Leute in den Entstehungskontext eingeladen und habe dann versucht, über das Werk hinaus das Netzwerk drum herum abbildbar zu machen. Weil ich glaube, dass darin eigentlich die Chance liegt, dass wir uns nicht mehr nur auf das Werk konzentrieren, sondern dass wir den Blick öffnen und sagen: Das Netzwerk, der Kontext drum herum, der schafft vielleicht Werte.
    Kontext als Faktor der Kunstproduktion
    Das Banksy-Beispiel illustriert das ja, dass das Bild selber, das Kunstwerk selber … Von dem geht der Wert gar nicht aus, sondern von der Wahrnehmung drum herum, von - um es mal ein bisschen "nerdisch" zu sagen - den Metadaten drum herum, also den Daten, die sich nicht auf den Inhalt beziehen. Und als Künstler ist man in der Lage, diesen Kontext zu schaffen. Und wenn man sich darauf konzentriert, entstehen damit glaube ich auch neue Geschäftsmodelle für Künstler, die nicht mehr nur auf der reinen Verwertung des ohnehin nicht mehr greifbaren Originals basieren.
    Schäfer: Bevor es diese neuen Geschäftsmodelle geben kann, sagen Sie, muss es ein Ende des Durchschnitts geben. - Dirk von Gehlen heute im Gespräch in "Essay & Diskurs", wir haben ein Gespräch über Durchschnitt versprochen und noch gar nicht darüber geredet. Aber jetzt kommen wir dahin! Wie kam der Durchschnitt überhaupt in die Welt?
    von Gehlen: Ich glaube, dass das 20. Jahrhundert geprägt ist von einer Form der Fabriken und der Massenkultur, die sich zwangsläufig auf den Durchschnitt als kleinsten gemeinsamen Nenner einigen musste. Man kann das, wir sitzen hier in einem Radiostudio, man kann das schön an Mainstream-Radiowellen illustrieren, die behaupten immer, sie spielten das Beste aus den '70ern, '80ern und '90ern und von heute. Das ist natürlich, wer das mal gehört hat, nicht nur musikalisch gelogen, es ist auch inhaltlich gelogen, weil es nie das Beste ist, sondern immer das, was den meisten Leuten am wenigsten auf die Nerven geht - also die Idee von kleinster gemeinsamer Nenner. Das wird immer als sozusagen 'das Beste' verkauft, weil es der Durchschnitt ist, auf den sich die meisten Leute einigen konnten.
    "Das Beste ist das, was den meisten Leuten am wenigsten auf die Nerven geht"
    Es ist ja nicht möglich, dass ich in einem terrestrischen Radio das Radio anmache und etwas anderes höre als Sie, sondern es gibt eine Verbreitungsfrequenz, auf die man sich sozusagen einigen muss. Das gilt für medial verbreitete Produkte genauso wie für Badeenten, die man in der Badewanne gerne dabei haben möchte, weil da - das kann man dann betriebswirtschaftlich erklären - sozusagen die Grenzkosten irgendwann sinken. Man fängt an mit der ersten Badeente, die zu produzieren, und ab der einemillionsten ist die dann viel günstiger und dann lohnt es sich, die zu verbreiten. Heute kann man tatsächlich mit hoch individualisierten Badeenten auch Geld verdienen, weil sich die Distributionskosten reduziert haben, zumal im Digitalen. Ich kann heute in Streamingdiensten wie Spotify Programme, die komplett auf mich zugeschnitten sind, hören, …
    Schäfer: Im Gegensatz zum Durchschnittsangebot.
    von Gehlen: Im Gegensatz zur Durchschnittswelle, die eben das vermeintlich Beste spielt, kann ich jetzt das hören, was für mich am interessantesten ist. Ich will das noch gar nicht bewerten, wir neigen dann immer sofort dazu, irgendwas zu bewerten. Man kann das an was anderem im Radio auch sehr gut illustrieren, nämlich an den Staumeldungen, die wir durchgängig im Radio hören. Auch wenn wir überhaupt nie einen Führerschein gemacht haben, wenn wir uns heute gar nicht mehr auf eine Autobahn begeben, werden wir dauernd damit behelligt, weil es früher keine andere Möglichkeit gab, denen, die tatsächlich auf dieser Strecke fahren, diese Information mitzuteilen.
    Heute haben wir andere Möglichkeiten, und das ist eine neue Welt, die sich öffnet. Und ich nenne diese Welt "die Welt jenseits des Durchschnitts", die Welt, die sehr viel stärker segmentiert ist, vielleicht sogar individualisiert ist. Und da bin ich sozusagen auch Optimist genug, zu sagen, das ist eine Welt, die eröffnet Chancen, lass uns versuchen, da gestalterisch einzugreifen und das zu einem gesellschaftlichen Nutzen so zu gebrauchen, dass wir damit was anfangen können.
    Die Welt der perfekt individualisierten Inhalte
    Schäfer: Okay, in der nicht-digitalen Welt spielt der Durchschnitt nach wie vor eine riesige Rolle: Durchschnittsgröße, Durchschnittstyp, Durchschnittsalter - in der gesamten Statistik undenkbar, den Durchschnitt wegzudenken. Aber eigentlich begegnet er uns in der digitalen Alltagswelt doch auch nach wie vor. Ich lese jetzt dauernd die Durchschnittsdauer der Lesedauer, wenn ich mich auf irgendeine Textseite begebe, das ist geradezu noch mal eine Neuerfindung, die das Internet sich gerade zu eigen macht, mir den Durchschnitt mitzuteilen. Wie passt das mit Ihrem Ausruf des Endes des Durchschnitts zusammen?
    von Gehlen: Ich glaube, dass die Lesezeit, die man jetzt bei manchen Texten online angezeigt bekommt und die ja immer eine durchschnittliche Lesezeit ist, ein sehr schönes Beispiel dafür ist, wohin sich das entwickelt: Je stärker wir in personalisierte Dienste kommen, je stärker eingeloggt verfolgt wird, was wir machen, umso stärker kann man Inhalte auf Menschen zuschneiden. Und es gibt schon heute Dienste, die messen, wie schnell man wirklich selber liest, und dann kann man genau diese Lesezeit nicht über einen Durchschnitt, sondern über einen tatsächlich auf mich zugeschnittenen Zeitraum definieren. Das ist dann meine Lesezeit. Und Dienste werden mir irgendwann anbieten können: Du hast jetzt noch zwei Stationen in der S-Bahn, da passt jetzt noch genau das "Streiflicht" der Süddeutschen für dich rein, weil du so langsam oder so schnell lesen wirst, wie die S-Bahn bis zu dieser Station braucht.
    Befreiung vom "Angstnarrativ"
    Was ich eine total tolle Kontextschaffung finde! Also da passt etwas dann sozusagen in meine Lebenswelt. Und der Wert des "Streiflichts" der Süddeutschen entsteht nicht nur durch das, was die Kollegen da geschrieben haben, sondern entsteht auch dadurch, dass mir das passend auf diese zwei S-Bahn-Stationen angepasst wird. Und das illustriert vielleicht ganz schön dieses Zusammenspiel von Content, also von dem Inhalt, der einerseits natürlich gut sein muss, aber von den Metadaten drum herum, die meine Nutzungssituation aufnehmen und sagen, du brauchst jetzt noch genau sechseinhalb Minuten für diese zweieinhalbtausend Zeichen, das passt genau zusammen. Und auf einmal ist es für mich ein Gewinn und ich habe nicht einen vermeintlich allgemein besten Text, den ich nicht zu Ende lesen kann oder den ich zu Ende lese und dann eine Station zu weit fahre. Das wäre ja irgendwie dann auch ärgerlich.
    Schäfer: Das heißt, ich versuche nur mal eine Zwischenzusammenfassung … Also das Ende des Durchschnitts bedeutet, wir haben heute die Chance, alles zu personalisieren, auf uns zuzuschneiden, indem wir aktiv das Internet dafür nutzen - das ist das, was Sie vorschlagen, aktiv nutzen -, ziehe ich daraus. Das heißt aber auch, dass all diese Metadaten, vor denen alle so viel Angst haben, Ihnen eigentlich gerade ganz gut passen für das, was Sie vorschlagen für eine sich ändernde Kultur der Nutzung des Internets.
    von Gehlen: Ich habe tatsächlich erst mal versucht zu beschreiben, was heute schon existiert, und habe versucht, mich freizumachen von diesem Angstnarrativ. Auf das kommen wir gleich noch mal, weil ich …
    Schäfer: Das böse Internet.
    von Gehlen: Das böse Internet, die bösen Datenkraken. Das will ich damit überhaupt nicht ausschließen, aber ich wollte erst mal verstehen: Was ist die Grundtendenz, was ist der zugrunde liegende gesellschaftliche Entwicklungsstrang? Und wenn man das tut, dann löst man sich so ein bisschen von diesen Halbdiskussionen, die natürlich positiv wie negativ geführt werden.
    Schäfer: Halbdiskussionen?
    von Gehlen: Halbdiskussionen im Sinne von: Es gibt Menschen, die sagen, das wird alles super, wenn wir das machen, und es gibt Menschen, die sagen, boah, das ist total gefährlich, wir dürfen auf keinen Fall unsere Daten abgeben! Und dann habe ich mich ein bisschen auf den historischen Weg begeben und es gibt ein sehr schönes Beispiel, wo man nur durch Datenfreigabe überhaupt zu Ergebnissen kommt, wenn man nämlich zum Arzt geht. Der Arzt muss was über mich wissen, um zu ermitteln, was er mir geben kann. Wenn er das nicht weiß, gibt er mir irgendeine Durchschnittshilfe, die aber … weil er eben sagt, im Durchschnitt kommen Menschen, die so sind wie Sie, mit einem Schnupfen, ich habe mir aber das Bein gebrochen. Und weil ich nicht bereit bin, mich von ihm röntgen zu lassen, weil ich sage, auf gar keinen Fall darf er Daten von mir haben, kann ich gar nicht richtig auf mich zugeschnitten untersucht und dann auch kuriert werden. Dafür gibt es die Schweigepflicht des Arztes, die hat man …
    "Datensammeln ist nicht per se böse"
    Schäfer: Und ein relativ striktes Geheimhaltungssystem medizinischer, individueller Daten.
    von Gehlen: Richtig. Das hat man irgendwann mal erfunden, weil man festgestellt hat, in einer sehr vordigitalen Zeit: Damit ein Arzt das, was er tun soll, tun kann, muss man ihm Dinge anvertrauen, die er nicht weitererzählen soll, so. Und vielleicht sind wir - der Vergleich hinkt natürlich ein bisschen - aber historisch in einer ähnlichen Situation gerade, dass wir jemandem - ich lasse das jetzt erst mal noch mal offen - Daten geben, damit wir davon profitieren können. Also, ich möchte einen Kartendienst auf meinem Handy, ich möchte den Weg zum Hauptbahnhof finden, dann muss ich dem schon mal sagen, wo ich bin, sonst kann der mir das jetzt gerade nicht auf mich zuschneiden. Das ist eine sehr praktische Eigenschaft von diesen Smartphones, dass sie die Geolocation vermitteln und ich dann weiß, wo lang ich jetzt gehen muss bis zum Hauptbahnhof.
    Bisher ist die Regel, dass wir das dann alles frei an Google geben und Google das dann nutzen kann, wie Google will. Ich glaube, da muss man anfangen und sagen: Wir brauchen so was wie die Schweigepflicht des Arztes auch für große Unternehmen. Wir müssen die verpflichten, dass sie mit den Daten angemessen umgehen und wir das einsehen können. Wir müssen also in einen Diskurs kommen darüber: Was wird denn mit meinen Daten gemacht? Und wir müssen wegkommen von diesem meiner Einschätzung nach stark angstgetriebenen Diskurs der Datenkraken, die einfach nur Informationen sammeln und das ist alles per se schon mal böse. Das ist es nicht! Wir müssen Systeme schaffen, in denen diese Daten im Sinne unseres Datenschutzes, der da übrigens sehr gut ist im Sinne unseres Datenschutzes, dafür genutzt werden, wofür man sie braucht.
    "Zivilgesellschaftliches digitales Engagement ausüben"
    Da gibt es ganz tolle Ansätze, wo Leute ausprobieren, dass man tatsächlich nur temporäre Datennutzung zulässt, also nur für die Sekunde, wo ich jetzt den Hauptbahnhof suche, wird etwas an diesen Kartendienstleister übermittelt, was sich so anfühlt wie meine Geolocation, danach muss der das wieder löschen, er kann das nicht beibehalten. Ich finde diese Diskussion … Ich habe dafür noch keine Lösung, aber ich finde die Diskussion wichtig, da in eine Lösung zu kommen und nicht die Diskussion zu führen: Besser gar nicht das Smartphone benutzen, besser gar keine Daten abgeben!
    Schäfer: Aber nur kurze Nachfrage dazu: Sind nicht diese Internetriesen und -giganten - Sie haben Google genannt, Amazon, wer auch immer - uns nicht da schon davongeeilt? Also aus der Menschheit heraus schon davongeeilt und gar nicht wieder einholbar als Besitzer, alleiniger Besitzer von diesen riesigen Metadatenmengen?
    von Gehlen: Ich glaube, nein. Ich glaube, die sind uns vorausgeeilt, aber sie sind einholbar. Sie sind in jedem Fall einholbar und wir müssen dazu, ich nenne das immer: so ein zivilgesellschaftliches digitales Engagement anfangen auszuüben. Und wir müssen den Menschen, die die große intellektuelle Debatte über das böse Silicon Valley führen, die sagen, das Internet ist böse, diesen Diskurs müssen wir aufbrechen. Wir müssen den zu einem gestaltbaren Diskurs führen und sagen: Wir haben Institutionen wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den man zum Beispiel auch geschaffen hat, um einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen zu schaffen. Es gibt da ganz tolle Ansätze, dass man die Frage diskutiert: Wie können wir dahin kommen, dass wir Daten vielleicht an Organisationen geben, denen wir eher vertrauen, an Stiftungen geben und sie nicht privatwirtschaftlich-kommerziell nutzbar machen?
    "Man tut Dinge, obwohl man weiß, dass sie eigentlich nicht richtig sind"
    Diese Diskussion führen wir aber zurzeit nicht, weil wir immer noch damit beschäftigt sind, über das böse Silicon Valley zu schimpfen, über die schon uns vorausgeeilten Konzerne. Ich glaube das nicht, wir werden die einholen können, weil die ja tatsächlich nur davon leben, dass da Leute drin sind. Also es gibt tatsächlich einen … Es mag naiv klingen, aber es gibt ein demokratisches System dahinter, dass, wenn wir nicht mehr in Facebook sind, dann hat Facebook auch nichts mehr, womit es Geld verdienen kann.
    Schäfer: Aber wir bleiben alle in Facebook.
    von Gehlen: Das ist wahrscheinlich tatsächlich eines der großen Paradoxons der Gegenwart, dass man Dinge tut, obwohl man weiß, dass sie eigentlich nicht richtig sind. Was ich mir wünschen würde, ist, dass man aufhört, darüber zu schimpfen und das zu verteufeln und hinzukommen in einen gestaltbaren Diskurs. Denn das ist das, was glaube ich das Schlimmste ist, was Pessimisten und Optimisten uns einreden: dass das, was wir tun, eigentlich gar keinen Einfluss mehr hat. Und das ist, wenn man sich diese Datennutzung anguckt - das nennt man dann Predictive Analytics, man kennt das dann mit Pre-Crime, wo auf Daten ermittelt wird, dass irgendjemand übermorgen straffällig wird -, dann ist Zukunft kein gestaltbarer Ort mehr. Und das müssen wir uns erhalten, das müssen wir erkämpfen, dass wir Zukunft weiterhin gestalten können.
    Schäfer: So, und da hake ich ein. Also, halte noch mal fest: Metadaten sind eigentlich ein Geschenk für den Netzaktivisten, Crowdfunder und Social Media- und Innovationsleiter der Süddeutschen Zeitung Dirk von Gehlen, aber auch Sie sagen in Ihrem Buch, die Kulturindustrie, die Kultur ist von diesem Wandel, der stattfindet, besonders betroffen. Mehrfach fiel schon das Wort Kontext, das müssten wir vielleicht noch mal etwas näher beleuchten. Es entsteht eine Kontextkultur, die besonders - unsere Kulturradiolandschaft eingeschlossen - Buchverlage, alles, Print, Zeitungen treffen wird.
    "Aufmerksamkeit ist nicht vermehrbar"
    von Gehlen: Wir erleben eine Welt, in der immer, immer, immer mehr Inhalt produziert wird. Also machen wir mal den Blick kurz auf: Anfang der '70er-Jahre, zwei Fernsehprogramme, drei Fernsehprogramme, dann kam irgendwann das Privatfernsehen dazu, wir hatten verhältnismäßig wenig Inhalt, der auf verhältnismäßig viel gesellschaftliche Aufmerksamkeit getroffen ist. Heute dreht sich das um. Die Aufmerksamkeit ist ja nicht vermehrbar. Selbst wenn man reich erbt - man hat diese 24 Stunden am Tag, da kann man vielleicht ein bisschen an seinem Schlaf arbeiten, was vielleicht auch nicht gesund ist, aber es bleibt bei diesem Aufmerksamkeitsfenster. Ich glaube, dass wir feststellen werden, dass das der Hebel der Zukunft ist: Wer kann unsere Aufmerksamkeit erringen? Und da arbeiten die großen Plattformen gerade dran.
    Facebook behauptet ja, wenn du durch deine Timeline scrollst, helfen wir dir, nur die für dich relevanten Sachen zu präsentieren. Und die Kulturindustrie, die Zeitungsverlage, wir alle sind gewohnt, uns über Inhalte zu definieren, über die Originale zu definieren. Die Wertschöpfung findet aber gerade über die Kontexte statt, über den passenden Rahmen, in dem mir etwas präsentiert wird. Ich illustriere es mal an einem Beispiel: Ich treffe im Vorstellungsgespräch jemanden und vor dem Vorstellungsgespräch sagt mir jemand die Information, welchen Text der gegenüber gelesen hat. Das ist natürlich eine wichtige Kontextinformation, um das Gespräch zu führen!
    Da reicht es nicht zu sagen, der hat die Süddeutsche abonniert, sondern zu sagen, der hat den Wirtschaftsaufmacher gelesen, ist natürlich eine total wichtige Information für das Gespräch. Und diese Kontextinformation kann man in einem ganz, ganz breiten Spektrum gerade ablesen. Und ich glaube, dass darin eine sehr große Chance liegt, Inhalte zu filtern, zuzuschneiden. Wie das dann geschieht, da muss man drüber diskutieren, ob man diese Filter ein- und ausschalten kann, wie transparent die sind, das ist diese große Diskussion über die Filterblase. Aber die Tatsache, dass wir Filter brauchen, ist per se ja nicht neu, die brauchten wir schon immer.
    "In den Filtern liegt die Wertschöpfung der Zukunft"
    Heute gibt es noch mehr Inhalt, der auf uns einprasselt, umso wichtiger werden diese Filter. Und diese Filter liegen gerade in dem privatwirtschaftlichen Interesse von großen amerikanischen Unternehmen. Da müssen wir glaube ich hinkommen, dass wir uns diese Filter zurückerobern, dass wir mit denen umzugehen lernen, weil in den Filtern die Wertschöpfung der Zukunft liegt.
    Schäfer: Aber das klingt sehr abstrakt. Also Sie selber haben das ja auch schon mal als Buch durchgenommen, diese These: Eine neue Version ist verfügbar heißt das Buch aus dem Jahr 2012, wo Sie quasi das Ergebnis künstlerischen Arbeitens unter die Lupe nehmen, wie es sich durch Digitalisierung tatsächlich erweitern, ändern, entwickeln kann. Was bleibt denn Kulturschaffenden, Künstlern, Musikern, Filmemachern und so weiter in Ihrem Denken über "Das Ende des Durchschnitts" beziehungsweise "Eine neue Version ist verfügbar" zu tun?
    von Gehlen: Ich glaube, die Frage ist nicht, was bleibt, sondern: Was ergibt sich noch zusätzlich. Ich glaube, es bleibt dabei, dass jemand, der künstlerisch, kreativ schaffend ist, egal in welchem Genre, in welcher Branche, sein künstlerisches Werk weiter schaffen kann und soll, und wahrscheinlich so gut wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Die technischen Instrumente sind so gut wie noch nie zuvor. Was neu dazukommt, ist, dass die Distribution dieser Kunstwerke, also der Zugang an den Markt, an den Rezipienten, an den, der diese Kunst aufnehmen soll, dem Künstler auch in die Hand gegeben ist und dass dieser Rezeptionsraum auch zum Bestandteil der künstlerischen Arbeit werden kann. Beispiel von Banksy gerade ist, dass er um sein Werk einen Film gedreht hat, wie dieses Werk verkauft wird.
    Schäfer: Im Park.
    von Gehlen: Im Park. Er stellt also nicht nur das Werk hin, macht sein Graffiti und sagt, ja, das soll halt ein Gallerist verkaufen - das ist die Welt des 20. Jahrhunderts -, sondern er sagt, ich nehme das jetzt, trage es raus und filme, wie die Distribution, der Verkauf dieses Kunstwerks vonstattengeht. Das, was da eigentlich die Verwertungskette ist, die - früher hätte man gesagt - mit dem Künstler ja nichts zu tun hat, die inszeniert er noch mit. Eine andere Variante kann sein, dass Künstler bei der Produktion ihre Albums Menschen dabei zuhören lassen.
    Das Ende des Durchschnitts
    Schäfer: Das heißt, mir als Radiomacher würde das sagen: Die Sendung, die ich mache, das Gespräch, das wir hier führen, das bewerbe ich auf Facebook, per Twitter und so weiter und so fort, und ich muss mich damit zufriedengeben, dass manche User vielleicht nur diesen kleinen Twitter-Hinweis wahrnehmen und denken: "Ah, Dirk von Gehlen ist auch auf dieser Plattform!", aber nicht wirklich die Sendung hören?
    von Gehlen: Vielleicht erreicht man mit unterschiedlichen Aggregatzuständen und Größenordnungen dieses Gesprächs unterschiedliche Leute. Also, man hat das eine Originalgespräch von der Länge X Minuten, und dann gibt es etwas, was Sie da rausnehmen können, und das können Sie in eine andere Plattform tragen. Also das ist dann vielleicht so eine Art Teaser oder eine Geschmacksprobe davon. Vielleicht gibt es irgendwo auch eine viel längere Version davon, die man für Leute, die sich besonders interessieren, zur Verfügung stellt. Die Möglichkeit, die sich eröffnet, ist, dass wir von dem Standardprodukt wegkommen - deswegen "Das Ende des Durchschnitts" - und eine Palette von Produkten entstehen lassen, die Premiumausgaben von Alben sein können.
    Schäfer: Sie haben das mit Ihrem eigenen Buch so gemacht.
    von Gehlen: Ich habe das mit dem Buch so gemacht.
    Schäfer: Erläutern Sie es mal!
    von Gehlen: Ich habe mit dem Verlag, mit Matthes & Seitz zusammen probiert, dass es einen Kerntext gibt, der sozusagen die Grundform ist...
    Schäfer: Die schmale Ausgabe des Textbändchens.
    Der Leser als Co-Autor des Buches
    von Gehlen: Die schmale Ausgabe, wenn man so will, genau. Die kann man jetzt auch im Handel noch erwerben. Und es gab darüber hinaus eine auch auf Papier gestalterisch hochwertigere Ausgabe, die war angereichert über ein sehr umfangreiches Glossar und um Annotationen, die am Text waren. Die Idee dahinter ist, dass man das, was wir aus der Musik kennen,dass wir Interpretationen von einem Kunstwerk an das Kunstwerk andocken. Also zum Beispiel Coverversionen: Warum geht das eigentlich nicht bei Büchern, hab ich mir gedacht? Warum kann nicht jemand anders ein Buch annotieren, also kommentieren, in einen Kontext stellen und dadurch wird dieses Buch für mich interessant? Sascha Lobo nennt es Co-Books, also dass einer ein Buch schreibt und der andere es kommentiert. Ich stelle mir das sehr interessant vor, wenn wir Bücher da so verstehen wie Musik, die von anderen Künstlern ja auch interpretiert und umgeformt werden kann. Und das gelingt nur, wenn wir wegkommen von dem einen Buch und hin zu den Kontexten kommen.
    Schäfer: Aber das ist natürlich schon ein sehr anspruchsvolles Verhalten, das der Nutzer, User, Leser - wie auch immer - an den Tag legen muss, um das alles zu erleben, aber auch erst mal zu finden. Und ein großer Teil dieser Kontextmaschine, nenne ich das jetzt mal, ist ja doch auch erst mal: aufmerksam machen, Reklame machen, trommeln, um überhaupt jemanden da zu finden. Sind wir schon so weit oder müssen da alle Netz-User überhaupt erst mal eine eigene Kultur entwickeln, sich auch so breit informieren lassen zu wollen?
    von Gehlen: Ich glaube, wir sind schon so weit. Es fällt uns nicht ganz so auf, weil es dann immer so als Randphänomen gilt. Was mich überzeugt davon hat, dass es schon im Mainstream angekommen ist, ist Harry Potter und die Welt Pottermore, die J. K. Rowling dahinter quasi im Netz aufgemacht hat, wo Menschen die Geschichte von diesem brillentragenden Zauberer weitererzählen, also Fan-Fiction machen. Jetzt wird man sagen, ja, das wird ja bei Daniel Kehlmann oder bei großen Schriftstellern nie funktionieren! Aber warum eigentlich nicht? Also das fällt ja ohnehin ab.
    Austausch über "virtuelle Künstlerateliers"
    Also wenn jetzt jemand den großen Berlin-Roman geschrieben hat, der hat ja tatsächlich trotzdem Versionen davon, warum legt er die nicht offen? Warum kann ich nicht mit dem in ein - ich sage mal - virtuelles Künstleratelier kommen und mich austauschen? Dafür würden Leute sicher auch Geld bezahlen, dass man nicht nur sagt, ich kauf den neuen Menasse, sondern ich habe mit ihm gemeinsam darüber diskutiert. Und er schafft damit einen Kontext rund um das Werk, der - und dann sind wir wieder beim Kopieren - unkopierbar ist! Ich kann etwas erzählen, ich war zu dem Zeitpunkt mit dabei, wie wir das diskutiert haben.
    Das ist das, was ja die Menschen interessiert, warum sie auf Konzerte gehen! Nicht, dass da immer wieder die gleiche Musik gespielt wird, sondern: Ich habe erlebt, wie das passiert ist, wie die Violinistin das gemacht hat oder wie der Bandschlagzeuger das getan hat. Also dieses unkopierbare Erleben in den Mittelpunkt rücken, das können wir auch mit Literatur, das könne wir auch mit Sachbüchern tun.
    Wir können Kontexte schaffen, die Menschen dann einen Wert dazuschreiben lassen. Der Unterschied ist nur: Das gelingt nicht mehr für die breite Masse, sondern das gelingt, wie bei Pottermore, für die vielleicht acht bis zehn Prozent der Fans, die total begeistert sind. Und da sind wir wieder beim Ende des Durchschnitts: Es geht nicht mehr darum, nur die breite Masse zu adressieren und denen den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bieten, sondern vielleicht die zehn Prozent Hardcorefans - im Fußball würde man sagen: Ultras - zu bedienen und zu sagen, die sind auch wichtig, damit Stimmung ist im Stadion! Die sind wichtig, damit die Mannschaft angefeuert wird! Und gemeinsam kann der Künstler mit seinen Fans etwas schaffen, was dann einen Wert bedeutet.
    Schäfer: Klingt so ein bisschen, als müsste der eine oder andere vom hohen Ross …
    von Gehlen: Ich würde nie jemandem sagen, dass er etwas tun muss!
    Schäfer: … herabsteigen.
    Die Autorität in der Kulturproduktion wird heute anders begründet
    von Gehlen: Ich glaube aber, dass - ich habe es vorhin schon kurz angedeutet - Autorität sich heute anders begründet. Und Autorität begründet sich heute nicht mehr nur dadurch, dass man publizieren kann, das kann jeder, das ist heute offen, sondern sie begründet sich auch darin, wie man mit seinen Rezipienten, Fans, Lesern umgeht. Und es gibt tolle Beispiele von Künstlern, die heute Wohnzimmerkonzerte spielen, was heute möglich ist! Das ging vor 20 Jahren nicht, vor 20 Jahren konnte man das nicht organisieren! Die technische Infrastruktur ermöglicht es heute, dass Leute direkt mit ihren Fans in Kontakt kommen können. Da steht ein Potenzial darin … Das Problem ist, dass viele Künstler das irgendwie gerade noch nicht können, weil das noch nicht als Teil der Kunst gesehen wird. Und das würde ich mir wünschen, dass wir den Blick da öffnen.
    Schäfer: So, wir müssen zum Ende kommen! Morgen beginnt ein neues Jahr auf dem Weg ins Zeitalter des Kontextes - mit welcher Etappe?
    von Gehlen: Oh, schwierig! In jedem Fall mit einer Etappe. Ich würde mir wünschen, dass es eine Etappe ist, die, selbst wenn sie scheitert oder negativ ist, dass wir sie nicht sozusagen als gänzlich gut oder schlecht wahrnehmen, sondern immer als eine Entwicklungsstufe.
    Schäfer: Und das Ende des Durchschnitts - erwartbar?
    von Gehlen: Das Schlimme ist, dass beides immer parallel läuft. Wir werden nicht einen großen Knall erleben und dann ist die alte Welt weg und wir haben nur noch die neue, digitale, sondern die große Herausforderung - und dann vielleicht auch für 2018 - ist, beides zusammen zu denken. Also diese kulturelle Reibung zwischen der alten und der neuen Welt, die auszuhalten und die im besten Fall kreativ zu gestalten, das wäre so mein Wunsch für 2018.
    Schäfer: Dirk von Gehlen, vielen Dank!
    von Gehlen: Vielen Dank!
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