Oskar Negt: Unanständigkeit der Managerkaste

Oskar Negt im Gespräch mit Ulrike Timm · 09.06.2009
Der Sozialphilosoph Oskar Negt hat das Verhalten von Unternehmen und Regierung in der Wirtschaftskrise kritisiert. Wenn selbst Milliardäre Sicherheiten verlangten, enthülle dies zugleich die "Unfähigkeit dieses Kapitalismus, die Gesellschaft vernünftig zu organisieren, wie sich kein radikaler Linker das vorher hat vorstellen können".
Ulrike Timm: Arcandor kriegt keinen Notkredit und will auch keinen, Arcandor geht in die Insolvenz. Und schuld an der Insolvenz ist natürlich nicht zuletzt die Regierung, sagt Arcandor. Diese Wende kam plötzlich, aber ob es dabei so bleibt, wer will das noch wissen. Was sicher ist: Über 1200 Unternehmen wollen derzeit Geld vom Staat. Und der verteilt mit vollen Händen, stützt die Banken, rettet Opel und hatte Arcandor ja auch noch nicht endgültig abgesagt. Die Gesetze des Marktes scheinen außer Kraft gesetzt, zugleich verteilt die Regierung Geld, das sie nicht hat. Der Staat, also wir, verschuldet sich in nie da gewesenem Ausmaß. Am Telefon begrüße ich den Sozialphilosophen Oskar Negt. Er hat das Kapital immer gerne kritisiert, hat sich jahrzehntelang für die Gewerkschaften engagiert und ist ein in der Wolle gefärbter Linker. Schönen guten Tag, Herr Negt!

Oskar Negt: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Hat Sie das überrascht, diese Nachricht, dass Arcandor jetzt doch Insolvenz anmelden wird?

Negt: Nein, hat mich nicht überrascht. Und ich glaube, das ist auch ein Wendepunkt, denn wenn jetzt alle mit einer Dreistigkeit in Erscheinung treten, also selbst Milliardäre wollen also Sicherheiten haben, dann ist das auf der einen Seite wirklich eine Enthüllung der Unfähigkeit dieses Kapitalismus, gewissermaßen die Gesellschaft vernünftig zu organisieren, wie sich keine radikale Linke das vorher hat vorstellen können. Auf der anderen Seite ist natürlich die Unanständigkeit dieser Managerkaste für mich immer wieder unbegreiflich.

Timm: Wir hörten und wir hören ja im Moment auch ganz absurde Sätze und Schlagzeilen. Ein Beispiel: Auch die Eigentümer wollen helfen. So hieß es, als Arcandor bettelte. Muss man sich ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen.

Negt: Also Schickedanz und Scheffler und so, die Milliardäre, ja, die wollen auch helfen. Ich glaube aber, das sind also Verlegenheitskämpfe, die im Augenblick gemacht werden, denn wenn man sieht, dass General Motors, der größte Autobauer der Geschichte, Insolvenz anmelden muss, dann ist das ja auch ein geschichtliches Signal, dass diese Exportindustrie mit Autos und die Autoindustrie überhaupt, dass das irgendwie überholt ist, also dass man vielleicht zwei Autofabriken in einem Land benötigt. Und die Stützung von Opel halte ich für eine Absurdität, ich meine, da ich gewerkschaftsnahe bin, weiß ich, was das bedeutet für die Menschen, die da betroffen sind. Aber trotzdem, es ist überhaupt nichts gesichert. Also gesichert ist nur, dass wenn dieser Betrieb aufrechterhalten wird, wahrscheinlich die Hälfte der Arbeitsplätze sowieso wegfällt. Aber die Standortsicherheit ist auch nicht gegeben. Das heißt, es wird da etwas unterstützt, was überhaupt nicht zukunftsfähig ist.

Timm: Herr Negt, wenn ich Ihnen zuhöre, dann argumentieren Sie im Fall Opel fast wie Wirtschaftsminister zu Guttenberg. Hätten Sie sich träumen lassen, mal wie ein CSU-Wirtschaftsminister zu argumentieren?

Negt: Ja, das ist schlimm genug!

Timm: Es ist doch etwas ungewöhnlich aus Ihrer Position.

Negt: Das ist schlimm genug. Ich verteidige inzwischen auch Ludwig Erhard mit seiner sozialen Marktwirtschaft, die ja gegen den Markt erkämpft wurde, und Walter Eucken. Wissen Sie, das sind – also wenn Lernprozesse sich anknüpfen könnten an diese katastrophale Selbstenthüllung des Kapitalismus, dann würden sie darin bestehen, dass man jetzt diese jetzt irgendwie flüssig gewordenen Gemeinschaftsmittel, Steuermittel … Es wird ja heute mit Milliarden so geredet wie noch vor einem Jahr mit Millionen.

Timm: Das heißt, unter Umständen kann auch für einen gewerkschaftsnahen Sozialphilosophen wie Sie eine Insolvenz womöglich ethischer sein, weil sie auf Jahre gerechnet dem Gemeinwohl dienlicher ist als die Subventionen einer VEB Opel AG mit 100.000 Euro pro Arbeitsplatz?

Negt: Also ne schwierige Formulierung, die Sie gebrauchen. Also darin ein ethisches Zeichen zu sehen, würde ich nicht sagen. Aber die Tatsache, dass das nicht zukunftsfähig ist, was gemacht wird, und die Abwrackprämie, die Milliarden, die da reingesteckt werden, keine Zukunftsinvestitionen sind, das ist beunruhigend. Und ich glaube, dass die Unterstützung der Opel-Mitarbeiter durch den Staat, sagen wir durch eine Milliarde oder so, dass man ihnen neue Arbeitsplätze vermittelt oder schafft, vielleicht Gemeinwesenarbeitsplätze, die wir nötig brauchen, das wäre eine wirkliche Stützung eben auch der Opel-Mitarbeiter. Aber was jetzt passiert ist, dass man vielleicht in Dubai einen Investor oder so findet, der irgendwie überhaupt gar kein Interesse an der Standortgebundenheit einer solchen Fabrik hat, wie auch die Werftenkrise jetzt in Rostock, verstehen Sie, diese Engstirnigkeit. Und Sie haben mit Recht gesagt, ich finde Guttenberg ganz vernünftig. Also der argumentiert so, wie ein, ja, ein Kapitalist eben argumentiert, denn Insolvenzen sind ein Wesensgehalt dieser Form des Kapitalismus.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt. Herr Negt, wir haben im September vergangenen Jahres schon mal mit Ihnen gesprochen. Zu Beginn der Finanzkrise, die da noch vor allem eine Bankenkrise war, und da warnten Sie vor weiterer Plünderung des Staates. Ist das nicht inzwischen längst passiert - spätestens mit der Opel-Entscheidung?

Negt: Absolut. Ich meine, es werden hier, Frau Timm, Zusagen gemacht, die, wenn die eingehalten werden müssten, natürlich eine Staatspleite erzeugen. Das heißt also, es werden fiktive Summen genannt, Garantiesummen, und ich halte das so für unverantwortlich von allen, den Regierungsparteien natürlich hauptsächlich, dass ich das manchmal gar nicht fassen kann, wie hier mit Geld umgegangen wird, das ja Gemeinwesengeld sein könnte. Das heißt Stützung des Gemeinwesens, Ausbau von Kindertagesstätten, überhaupt Bildung, in die Bildung zu stecken, das wäre eine Zukunftsressource, die wir sehr benötigen. Mit anderen Worten: Für mich ist dieser Kampf jetzt um Stützungen und Konjunkturspritzen im Grunde ein Symptomkampf auf einem Felde einer sich im Umbruch befindenden Arbeitsgesellschaft. Ich will das nur einmal, also in ein, zwei Worten skizzieren, was ich damit meine. Diese Arbeitsgesellschaft lebt davon, dass sie marktvermittelt ist. Aber alle Produkte, die auf dem Markt vermittelt werden, werden immer rationeller produziert. Das heißt, die menschenfreie Autofabrik ist keine negative Utopie mehr, sondern vielfach schon Realität. Das heißt, alles, was für den Markt produziert wird, wird immer rationeller. Andererseits, und das heißt, wo bleiben die lebendigen Menschen da?

Timm: Herr Negt, wenn gerade ein Linker wie Sie doch im Ganzen derzeit so offensiv die soziale Marktwirtschaft verteidigt und gleichzeitig schimpft, ich sage es jetzt mal so, wie sehr der Kapitalismus sozialistisch wird, freut Sie das kein bisschen?

Negt: Ich habe irgendwie so aus meiner Arbeiterbildungskarriere gesehen, dass das Elend keinen Bildungswert hat. Also sagen wir mal, je schlechter es den Menschen geht, desto rebellischer werden sie, das ist ein Irrtum.

Timm: Also Sie können jetzt nicht mal feixen?

Negt: Ja. Sondern der Angst-Rohstoff in der Gesellschaft wächst, und damit auch die Lähmung der Gegenkräfte. Insofern kann ich schon nachvollziehen, dass die Stützung einer großen Bank, die so verflochten ist mit anderen Banken, einen Moment von Vernunft an sich hat. Wenn dahinter eine Strategie stünde, jetzt auch die Frage zu stellen, was ist das für ein kapitalistisches System, müssen wir Menschen in diesem Zeitalter Anhängsel des Marktes sein und muss jetzt der Staat sogar noch Anhängsel des Marktes sein.

Timm: Also wir müssen wieder lernen, insbesondere auch die Regierungsparteien, und zwar beide, dass Gemeinwohl doch was anderes ist als Opel- und Arcandor-Wohl?

Negt: So ist es! Das Gemeinwohl ist jedenfalls nach der Vorstellung der bürgerlichen Ökonomen von Keynes, Eucken und auch Ludwig Erhard nicht die Summe der rationalisierten Einzelbetriebe, sondern ist etwas anderes und mehr. Und dieses Gemeinwohldenken wieder in den Vordergrund zu rücken, gerade jetzt in der Krise, wäre meines Erachtens die einzig menschlich vernünftige Form, auf diese Krise zu reagieren. Die offiziellen Parteien, die Regierungsparteien haben nichts von einem solchen Blick erkennbar.

Timm: Der Sozialphilosoph Oskar Negt im Gespräch mit dem "Radiofeuilleton". Ich danke Ihnen sehr herzlich, Herr Negt!

Negt: Gut, Frau Timm. Wiedersehen!