Originalton

Wo die Technik versagt

Das Gerberviertel von Fes.
Das Gerberviertel von Fes. © Stefan Weidner
23.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche liest Stefan Weidner Klassiker der Reiseliteratur neu.
"Dann kamen sie in den innersten, heiligen Bezirk von Fes. Der Andrang war so groß, als würde etwas verschenkt werden, und so verhielt es sich: Segen wurde verschenkt, verschenkt im wahrsten Sinne des Wortes, kostenlos war er, nur hingehen musste man und ihn abholen. Und dran glauben natürlich, aber was sprach dagegen, kaum glaubte man, hatte man dieses gute Gefühl, dass alles in Ordnung käme und womöglich längst sei, was immer man auf dem Herzen hatte."
Das engmaschige elektronische Netz, das wir in den letzten Jahren über die Welt geworfen haben, hat inzwischen auch Fes eingefangen, die labyrinthischste aller orientalischen Städte, über die ich vor zehn Jahren einen kleinen Roman schrieb. Nun bin ich wieder dort, und zu meinem Entsetzen stelle ich fest, dass man sich selbst in Fes nicht mehr ordentlich verlaufen kann.
Ich habe es noch nicht gestanden: Neuerdings bin ich immer mit dem Smartphone und Google Maps unterwegs gewesen, und ich habe mich damit an Orten zurechtgefunden, von denen gar keine gedruckten Stadtpläne existieren, wie in Lahore und Khartum. Und obwohl die Jugendlichen von Fes, die ein Geschäft daraus machen, die Touristen durch das Gassengewirr zu führen, darauf schwören, man komme mit GPS in Fes nicht weiter, finde ich, vom Smartphone geführt, mein Hotel in der Altstadt, ohne mich zu verlaufen. Oh Entzauberung!
Fes mit dem Minarett der Kairuaner Moschee und den grünen Dächern des Heiligen Bezirks.
Fes mit dem Minarett der Kairuaner Moschee und den grünen Dächern des Heiligen Bezirks.© Stefan Weidner
Dann lasse ich mich treiben hinab in den Heiligen Bezirk und zur berühmten Kairouaner Moschee, und auf einmal ist es mit der Orientierung vorbei. Mein Telefon weiß nur noch, dass ich im Stadtkern von Fes bin, mehr nicht. Alles ist hier so kleinteilig, eng und verwinkelt, so vieles auf einem Fleck, dass die Ortung zwar stimmt, aber nicht mehr hilft. Es ist, als sei ich in einen Innenraum gelangt, während mein Gerät nur das Außen anzeigt. Und tatsächlich ist hier nichts mehr vom Außen zu sehen, selbst die Außenwände der Kairouaner Moschee sind selbst wieder nur die Innenwände der an sie gelehnten Läden, die eigentlich Theken sind, und die Gassen die Flure eines großen, surrealen Kaufhauses für spirituelle Bedürfnisse. Ein fremdes System hat mich eingefangen, dessen Sprache weder ich noch die mir vertraute Technik zu verstehen vermag – eine Technik, die die kolonialen Strukturen Lahores und Khartums entziffert, nicht jedoch die mittelalterlich-orientalischen des heiligen Bezirks von Fes.
Das ist ein Segen, der selbst mich erfasst, den Ungläubigen, und ich begreife, dass das Heilige das sein wird, was der Technik nicht zugänglich ist.

Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch - und er reist viel. Für Deutschlandradio Kultur hat er Klassiker der Reiseliteratur neu gelesen - und mit eigenen Reiseerfahrungen kombiniert. Die ersten Folgen liefen in der Sendung "Lesart" als Sommerreihe "Mit Büchern reisen". Nun wird die Serie in der Rubrik "Originalton" fortgesetzt.

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