Originalton

Warum ich die Mark Brandenburg mit dem Zug durchquere

Blick auf Bahngleise
Nicht zu Fuß, sondern mit dem Zug durchquert Christoph Peters die Mark Brandenburg. © picture alliance / Uwe Gerig
Von Christoph Peters · 02.09.2014
"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Diese Woche: Christoph Peters, viel auf Reisen, wohnhaft in Berlin.
Fassen wir noch einmal zusammen, wo wir gestern stehengeblieben waren: Heute ist nicht heute, heute war bereits vor einer Woche, wobei – nein, so kann man es auch nicht sagen: Natürlich sprechen wir jetzt miteinander, Sie und ich, beziehungsweise ich rede und Sie können nicht antworten, Sie haben lediglich die Möglichkeit mir die Stimme wegzudrehen oder umzuschalten, was aber nichts daran ändern würde, dass ich spreche, gesprochen habe, genau wie der Nachrichtensprecher hinter mir, der auch eben, in Ihrer jetzigen Jetzt-Zeit wieder gesprochen hat, aber im Unterschied zu mir, hat er etwas völlig anderes gesagt, als vor acht Tagen.
Ich bin inzwischen in München, warte in einem schönen mit Trockenblumengestecken und Samtborten dekorierten Café auf eine Bekannte, mit der ich einen voraussichtlich angenehmen Termin haben werde, ehe ich mich zurück zum Bahnhof begebe, um den nächsten Zug nach Berlin zu nehmen. Aber das wird, wie gesagt, aus meiner Sicht erst kommende Woche sein.
Spüren Sie es, wie er schwankt, der scheinbar so feste Boden unter Ihnen. Die Geschichte, in der Sie sind, in der Sie sich permanent selbst erzählen, hat keinen festen Grund. Mir ist, wenn ich nur an die vorausschauende Erinnerung denke, schon ganz schwindlig.
Tausende von Seiten durch die Mark Brandenburg wandern
In meiner momentanen Zeitblase, die in der Ihren bereits vollständig vergangen ist, bereite ich meine Abreise nach Aachen vor. Gleich werde ich die Koffer packen, meine Fahrkarte prüfen – habe ich Geld, Schlüssel, das Telefon eingesteckt?
Abreisen liegen mir nicht, ganz gleich, ob sie sich in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft befinden. Wenn ich erst einmal fort bin, kann ich mich mit dem Unterwegssein dann meist ganz gut anfreunden. Es gibt immer viel zu sehen: Gerade die Landschaft. Aber ähnlich wie die Vergegenwärtigung des Wetters, hat die Landschaftsbeschreibung im Lauf der letzten Jahrzehnte viele ihrer Freunde verloren. Landschaftsbeschreibung gilt als Inbegriff der Langeweile in Büchern. Wer würde heute noch Tausende von Seiten durch die Mark Brandenburg wandern. Ich werde sie mit dem Zug durchqueren.
Bei früheren Gelegenheiten habe ich ihr, gerade im Zusammenspiel mit dem Wetter schon freundliche Sätze abgewonnen, heute wird es dazu dann bereits zu spät sein: Hier in Berlin – ich weiß nicht, wo Sie sich gerade aufhalten, aufgehalten haben werden, nächste Woche, jetzt, also dann, in Ihrer Zeitrechnung, am Dienstag, den 2. September – hier in Berlin verstellen mir eine Woche zuvor Bäume und Häuserzeilen den Blick auf den Horizont, so dass die Landschaftsbeschreibung wegfällt. Bleibt das Wetter: In dem schmalen Streifen Himmel über der Straße hat sich die bewegte, in helleren und dunkleren Grauschattierungen changierende Wolkendecke ein Stück gehoben und hängt jetzt als lichte Fläche, wie ein dünner Gazevorhang vor dem Blau – erinnern Sie sich?
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