Originalton

Vögel und Gedichte 1

Ulrike Draesner
Ulrike Draesner © dpa / picture alliance / Swen Pförtner
Von Ulrike Draesner · 30.06.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Ulrike Draesner.
Ich schreibe Vogelgedichte. Nein: ich arbeite an Vogelgedichten, nachdem ich viel zu Vögeln gelesen habe, sie mir ansah und versuchte, sie selbst zu entdecken – im Park, im Wald. Mit mäßigem Erfolg. Ich höre Laut-BREI, mit falschen Zuordnungen. Die Anleitungsbücher sagen, es dauere ein paar Sommer, bis man unterscheiden könne. Ich finde das optimistisch.
Zu Optimismus besteht keinerlei Anlass. Nicht einmal der Satz "ich schreibe Vogelgedichte" ist richtig. Wenn ich daran denke, wie sich anfühlt, was ich tue, sollte ich eher sagen: ich mache Vogelgedichte.
Bastle, füge zusammen, suche, korrigiere.
Ich höre sie. Sitze am Schreibtisch, brabbele vor mich hin, tippe dabei, drucke aus, korrigiere, höre, höre laut, lese mir vor, bewege Sprache durch den Mund. Bei Neugeborenen kann man einen Reflex zwischen Hand- und Mundbewegungen beobachten. Bei mir auch! Offensichtlich habe ich mich nicht sonderlich weiter entwickelt. Jahrelang sagte meine Mutter, wenn ich zeichnete oder schrieb: Zunge rein. Vergebens. Heute sage ich: für volle Konzentration, ein wirkliches Ganz-bei-der-Sache-Sein, brauche ich mich ganz.
Fürs Gedichtschreiben brauche ich meine ganze Konzentration.
Verbindungen müssen anfangen, zu schwingen – im gesamten Körper, allemal jene zwischen den tippenden oder schreibenden Fingern und der Zunge sowie den Lippen. Ich mache Vogelgedichte, indem ich sie hör-spreche.
Sitze ich da, suche ein Wort?
Habe ich ein Wort, suche dann weiter?
Weder noch.
Eher Bilder, Rhythmen, die sich aus einer gefundenen Klangfolge in Sprache entwickeln.
Und andersherum: ich sehe innerlich oder äußerlich ein Bild. Erinnere mich. Habe etwas gelesen. Sehe und suche weiter, folge dabei Worten und ihren Klängen, ihren Etymologien, ihren Bedeutungsfeldern und Mondhöfen.
Subsong wird er heißen, der Gedichtband mit den Vogelgedichten: und eben ihn, diesen Subsong, suche ich: das Lied unter dem Lied. Dort, wo die Bedeutungsebenen der Sprache durch meine Art und Weise, mit ihr umzugehen, sich lockern – so dass die Bedeutungen, die Gefühlsvalenzen von Lauten, von Konsonanten und Vokabeln, ihren Kombinationen und Variationen hörbar werden.
Meine Tochter kommt herein: "Was machst du, Mama?"
"Ich beschäftige mich mit Amseln."
"Wo?"
"Hier."
Leider ist die Amsel, die sonst um diese Uhrzeit laut singend auf der Antenne gegenüber sitzt, jeden Abend, HEUTE nicht da.
Mein Kind schaut mich zweifelnd an. In der Schule wurden in den letzten Wochen Vögel durchgenommen. Zweite Klasse, der Kuckuck.
"Warum haben Amseln gelbe Schnäbel?", sagt meine Tochter mit Lehrerinnenstimme.
Ich zucke die Schultern. Weiß man das denn? Die Erklärung: weil Amselweibchen Gelb an Schnäbeln wahnsinnig schick finden (etwa so wie Menschenweibchen gelbe Porsche), finde ich nicht absolut überzeugend.
Ich rufe meiner Tochter nach: "Ich habe ein Kuckuckgedicht."
Aber das hört sie - sicherheitshalber - gar nicht mehr.
In diesem Augenblick beschließe ich: wenn ein Amselgedicht, dann eines mit einem jungen, staunenden Amselweibchen darin.