Originalton

Plötzliche Tänze mitten in Peking

Chinesische Senioren tanzen in einem Park in Peking, aufgenommen 2012.
Freilufttänzer - häufig Senioren - gelten in Peking in den Augen der Mittelschicht mittlerweile als öffentliches Ärgernis. © picture alliance / dpa / Luo Wei
Von Hans von Trotha · 29.10.2014
In seiner "Lost in China"-Serie stößt Autor Hans von Trotha in den Straßen Pekings dieses Mal auf Phänomene, die ihm Rätsel aufgeben: nächtliche Päckchen-Packer an flüchtig aufgebauten Ständen und 300 tanzende Chinesen an einer Verkehrskreuzung.
Die Pekinger wohnen beengt. Deswegen nutzen sie den öffentlich Raum privat. Das dann allerdings wieder in der Gruppe. Die Begriffe privat und individuell sind hier sowieso anders definiert.
Es war nach dem Abendessen. Wir schlenderten durch ein Quartier, in dem wir wieder einmal das Stadtzentrum vermuteten, und hielten - erfolglos - nach so etwas wie einer Bar oder einem Café Ausschau, wo wir noch etwas hätten trinken können.
Erst dachten wir, es sei ein Nachtmarkt, der da auf der anderen Straßenseite stattfand. So etwas gibt es in China. In Hongkong zum Beispiel gehört einer zu den bekannten Sehenswürdigkeiten. Je näher wir kamen, desto rätselhafter wirkten allerdings die flüchtig aufgebauten Stände, die Geräusche, die von ihnen ausgingen und schließlich auch die Tätigkeiten, die diese verursachten. Schnell, koordiniert, hochkonzentriert wurde Ware in Papier gewickelt, mit Klebeband verschnürt.
Die Päckchen wurden gewogen, frankiert und auf Haufen, in Plastikwannen oder gleich auf bereitstehende Elektro-Rikschas geworfen.
Phil Dera: "Bei dem Postamt dachte ich tatsächlich, das sind Arbeiter, denen ist zu warm geworden, die haben das alles nach draußen verlagert."
War es aber nicht. Wir waren auf eine wilde Post gestoßen, ein privates Versandunternehmen, das die Miete für Büro und Lager spart, nächtens irgendwo in der großen Stadt seine Zelte aufschlägt und nach getaner Arbeit wieder einpackt. Morgen woanders.
Wenige Straßen weiter dachte ich vollends, ich würde fantasieren. Der Jetlag war nach seiner ersten Nacht aufgegangen wie eine Lotusblüte und hüllte die spätabendlichen Eindrücke in eine Dunstglocke – gerade so wie es der Smog den ganzen Tag über getan hatte. Mein Reisebegleiter Phil erwies sich in diesen Dingen immer als viel schneller als ich.
Phil Dera: "Tatsächlich als ich die Musik hörte, hatte ich schon eine Ahnung..."
Ich nicht. Ich war überwältigt. Vor mir tanzten geschätzt 300 Chinesen am Rand einer Straßenkreuzung vollkommen synchron zu einer komplexen Choreografie.
Phil Dera: "Es ist auch kein neues Phänomen. Das neue Phänomen ist, dass es mittlerweile eine emanzipierte Mittelschicht gibt, die sich dagegen wehrt."
Tatsächlich gibt es das Phänomen in den Straßen chinesischer Großstädte seit Jahrzehnten. Meist sind es ältere Damen, die da tanzen. Und jetzt gibt es eine neue Mittelschicht, die fühlt sich in ihrer Ruhe gestört und geht dagegen vor. Während unserer Zeit in China tobte eine Debatte in den dortigen Zeitungen. Sogar die FAZ berichtete von den "tanzenden Omas" und der genervten Mittelschicht. Erinnere ich mich falsch, oder waren das genau die Leute, von denen wir uns im Westen eine Öffnung der chinesischen Gesellschaft erwartet hatten? Wir scheinen das alles entweder gar nicht oder irgendwie falsch zu verstehen. Was im Übrigen am Ende sehr viel mehr unser Problem sein dürfte als das der Chinesen.
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