ORIGINALTON

Taschendieb

Die Autorin Nora Bossong
Die Autorin Nora Bossong © picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Von Nora Bossong · 08.07.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Nora Bossong.
Die Welt ist gut zu mir. So gut, dass ich verlernt habe, sorgsam zu mir zu sein, denn die Welt ist es ja schon zur Genüge. Sie mag mich und die Menschen mögen mich und sogar die Dinge. Sie hängen so sehr an mir, dass sie immer zu mir zurückkehren. Ich habe Taschen und Geldbörse in Zügen, Bibliotheken und Schließfächern liegengelassen, aber sie wollten einfach keinen anderen Besitzer. Sie wollten mich und nur mich und fielen mir überglücklich in die Hände, wenn ich sie am nächsten Tag abholte.
Nun ist etwas schief gelaufen in meinem Leben. Ich will nicht sagen, dass zum ersten Mal etwas schief gelaufen ist, aber bislang hat sich das Leben die Sache doch wieder anders überlegt. Heute ist das nicht so. Heute verschwand meine Geldbörse, und das, obwohl ich sie nirgendwo vergaß oder gar die Nacht allein in einem Schließfach verbringen ließ. Sie lag obenauf in meiner offenen Handtasche, hatte somit viel Licht und noch mehr Luft und jetzt ist sie trotzdem weg.
Ich neige dazu, die Richtung, die mein Leben einschlägt, sehr ernst zu nehmen, vor allem, wenn es ausnahmsweise eine schlechte Richtung ist. Wenn ich ein Knöllchen an der Windschutzscheibe finde, glaube ich mich bereits von der Justiz verfolgt und wenn es nur das wäre. Bald schon empfinde ich mich als amoralische, ja als gefährliche Person, die zudem zu ungeschickt ist, ihre kriminellen Machenschaften zu vertuschen. Ich bin nicht nur böse, sondern auch noch blöd. Dass ich mich heute habe ausrauben lassen, spricht mehr fürs Blöde als fürs Böse in mir. Das Böse ist in meine Umwelt abgewandert, da gibt es einen amoralischen Dieb, aber damit nicht genug, es gibt noch ein amoralisches Gesellschaftssystem, das diesem Menschen keine bessere Perspektive bieten kann, da gibt es mich, die bislang nichts oder zu wenig gegen dieses System unternommen hat, sondern mit all ihrem Glück amoralische Nutznießerin war. Und dann gibt es noch den amoralischen Sinn von Portemonnaies, alles zu sammeln, was wichtig sein könnte. Geld, Kreditkarten, Ausweise, Fotos der Liebsten, sofern man welche hat, ach, grade weiß ich nicht einmal mehr das. Vielleicht ist mit dem Portemonnaie einfach alles Wichtige aus meinem Leben gestohlen worden. In den kommenden Wochen werde ich nur noch mit Telefonnummern von Behörden, Fundbüros, Polizeiämtern, Krankenkassen und Banken zu tun haben und das also ist von meinem so wunderbaren Leben übrig geblieben.