Originalton

Postkarte vom Ausflugsboot

Touristen mit Schirmen auf einem Ausflugsschiff
Getränke - und Schirme: an Deck eines Berliner Ausflugsboots © dpa / picture alliance / Soeren Stache
Von Jan Wagner · 29.07.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Jan Wagner.
II - Zweite Karte
Die Ausflugsboote, Barbara, im Kanal, mit den eisigen, grünen und roten Getränken an Deck: Sobald sich eines der Boote nähert, fliegt der Möwenschwarm auf, reißt es ihn auseinander, weht ihn in Schnipseln über das Wasser; hinter dem Heck erst beruhigt er sich wieder, findet zusammen, wird das Papier, wird der Brief wieder ganz. Windspiele: Ich treffe im Park auf den Mann mit zwei Hunden; einer ist schwarz, der andere weiß, aber beide sind lang und schmal, ihre Felle schimmern wie Steinwaytasten; so traben sie nebeneinander her an den Leinen, mal näher zusammen, mal weiter entfernt, hier kleine, dort große Terz, mal Dur und mal Moll. Und plötzlich ein Rauschen in den Bäumen da vorne, heftig und kurz, obwohl hier bei uns nicht ein Hauch ist – als rase, unsichtbar, ein Zug vorüber. Was die Reiseführer nicht erwähnen: Der hiesige Barock sind die Obst- und Gemüseläden, die üppigen Fassaden aus duftenden Kisten, gestapelt und präsentiert, sind die prachtvollen Werke von Ananas, Apfel und Avocado, nicht die von Asam. Wirklich, der russische Schuhmacher scheint das Geheimnis des ewigen Lebens zu kennen, und vor dem Laden des persischen Händlers stehen die riesigen Teppichrollen schräg an die Hauswand gelehnt, stolz wie die Schlote von Überseedampfern. Die makellose Prozession von Hemden und Sackos in der Wäscherei, immer im Kreis, im Kreis, und im Wettbüro rennen die Pferde von Bildschirm zu Bildschirm – ein Tag für die Götter, sofern es Rhabarber gäbe. Doch da ist kein Rhabarber mehr, Barbara, auf dem Markt.

Jan Wagner debütierte als Dichter 2001, er gab eine Literaturzeitschrift heraus und veröffentlicht neben Lyrikbänden auch Kritiken und Essays. Für Deutschlandradio Kultur hat er eine Reihe von Postkarten geschrieben. Adressiert sind sie an "Barbara" - wir mutmaßen, dass unsere Kollegin Barbara Wahlster damit gemeint ist, die Jan Wagner zum Mitmachen eingeladen hat.