Originalton

Leb wohl, Madame Gros

Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013
Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013 © dpa / picture alliance / Yves Noir
Von Marjana Gaponenko · 09.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Marjana Gaponenko.
Heute werde ich Madame Gros zum letzten Mal sehen. Danach scheiden sich unsere Wege. Ihr Weg wird in zehn, zwanzig, höchstens dreißig Jahren enden. Mein Weg wird sich mit ein wenig Glück etwas länger unter Gottes Sonne winden.
Im Wintergarten des Schloßhotels werde ich erkannt und umgehend an den Tisch von Madame Gros geführt. Sie hat sich einen Platz in der Nähe des Flügels ausgesucht. Eine Vase mit Schwertlilien sowie mehrere klobige Notenschlüsselfiguren aus Muranoglas stehen darauf.
Madame Gros wendet sich mit überrascht fröhlicher Miene zu mir und reicht mir im Sitzen beide Hände. Ich bin doppelt verwirrt. Erstens habe ich gesehen, dass sie mich bereits beim Betreten des Raums erkannt hatte. Zweitens weiß ich nicht, welche Hand ich drücken soll. Madame Gros kommt mir zu Hilfe und schiebt ihre zehn lackierten Finger in meine Hand, die ich ihr wie ein ungeübter Bettler hinhalte. Ich nehme Platz und beginne in meiner Handtasche nach meinem Notizblock zu wühlen. "Ach, ich habe gar kein Geschenk für Sie!", ruft Madame Gros aus und schaut mir interessiert zu. "Ich auch nicht", gebe ich beschämt zur Antwort. Wir lachen beide zum ersten Mal gemeinsam.
"Darf ich mit meinen Fragen loslegen?" "Aber gerne." "Glauben Sie an Gott?" "Nächste Frage." "Was mögen Sie?" "Meine Erinnerungen." "Was mögen Sie nicht?" "Wenn jemand angenehm sagt. Angenehm eine alte Schachtel kennen zu lernen – das glaube ich nicht! Oder Mahlzeit. Das ist kleinbürgerlich. Gesegnete Mahlzeit, das ginge noch zur Not im Familienkreis, aber nicht im Vorbeilaufen, durch die Zähne geknurrt." "Madame Gros, Sie sind Französin und leben seit Ihrer Jugend in Deutschland. Wie ist Ihr Verhältnis zur deutschen Kultur?" "Ist das Ihr Ernst?" "Mein voller Ernst."
"Na gut, ich hoffe, uns hört hier niemand ...", Madame Gros senkt die Stimme, "Die Deutschen haben sich mit ihrer Geschichte auseinander gelebt, sie zehren nicht von ihr wie wir Franzosen. Seit der Reformation war hier niemand richtig glücklich. Pflichtbewusst, genügsam, fleißig, staatstreu, heroisch, alles, nur nicht glücklich."
"Was ist Ihr Männertyp?" "Preußisch. Ich hatte drei Preußen zum Mann." "Und konnten Sie als lebenslustige Französin Ihre Männer glücklich machen?" "Aber was ist schon Glück? Ein Hirngespinst. Sie sind alle zufrieden gestorben, lebenssatt, das ist eine Kunst, ganz gleich, ob du Soldaten- oder Sonnenkönig bist", sagt Madame Gros, lacht und schaut mit feuchten Augen zur Decke.

Die Originaltöne kommen in dieser Woche von der jungen, in Odessa geborenen, auf Deutsch schreibenden Autorin Marjana Gaponenko. Sie lebt in Mainz und Wien.

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