Originalton

Gleichzeitigkeit in Sevilla

Von Stefan Weidner · 22.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche liest Stefan Weidner Klassiker der Reiseliteratur neu.
"Die Giralda dient der Kathedrale von Sevilla als Campanile. Sie ist ein ehemaliges Minarett. Den Abschluss des Turmes bildete eine Kuppel, auf die vier dicke, vergoldete Kugeln in abnehmbarer Größe gesteckt waren. Man besteigt die Giralda über eine Folge von stufenlosen Rampen, die so leicht geneigt und bequem sind, dass zwei Männer zu Pferde mühelos nebeneinander bis nach oben reiten könnten, von wo sich eine wundervolle Aussicht bietet. In schimmerndem Weiß liegt einem Sevilla zu Füßen, jenseits breitet sich die Ebene, durch die der Guadalquivir seine Bahn zieht."
In Marokko darf man die Moscheen nicht betreten und die Minarette nicht besteigen. Um auf das Minarett der Kutubiyya zu gelangen, der großen Moschee von Marrakesch, bin ich daher nach Sevilla gefahren. Nach Sevilla? Richtig, nach Sevilla! Als Théophile Gautier 1840 die Giralda bestieg, wusste er zwar, dass dieser Glockenturm einst das Minarett einer Moschee war; er konnte aber nicht wissen dass dieses Minarett noch zweimal genauso in Marokko gebaut wurde, damals wie Andalusien von den Almohaden beherrscht.
Zugleich in Marokko und Spanien
Im Rohbau kann man es in Rabat sehen, in Gestalt des dort so genannten Hassan-Turms; vollendet aber in Marrakesch, und dort, in Marrakesch, habe ich auch die vier dicken, vergoldeten Kugeln gesehen, die Gautier erwähnt. Wie er steige ich jetzt die Folge von stufenlosen Rampen hinauf. Vom Inneren dieser Rampe aus betrachtet macht es keinen Unterschied mehr, ob ich in Marrakesch oder in Sevilla bin, ob ich ein Minarett oder einen Glockenturm hinaufsteige, als wäre in diesem Schacht die Zeit seit über achthundert Jahren stehengeblieben.
Als ich oben anlange und mich umschaue, sehe ich nicht nur eine Stadtlandschaft, sondern eine Zeitlandschaft, in vielem identisch mit dem, was einst die arabischen Gebetsrufer sahen. Dann senke ich meinen Blick; sanft wird er aufgefangen von einem anderen Bild aus dem arabischen Andalusien, einem Hain aus blühenden Orangenbäumen im Hof der einstigen Moschee; in seiner Mitte erkenne ich, wo der Brunnen für die Gebetswaschungen stand. Als ich wenig später diesen Hof betrete, fällt mir eine Orange direkt vor die Füße. Ich hebe sie auf, wiege sie in der Hand und denke, wie merkwürdig es ist, dass sich in den letzten achthundert Jahren zugleich alles und nichts geändert hat, dass ich zugleich in einer Moschee und einer Kathedrale, zugleich in Marokko und in Spanien bin!
Der Journalist, Schriftsteller und Übersetzer Stefan Weidner hält am 16.09.2011 im Friedenssaal im Rathaus in Osnabrück eine Laudatio.
Der Journalist, Schriftsteller und Übersetzer Stefan Weidner © picture-alliance / dpa / Friso Gentsch

Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch - und er reist viel. Für Deutschlandradio Kultur hat er Klassiker der Reiseliteratur neu gelesen - und mit eigenen Reiseerfahrungen kombiniert. Die ersten Folgen liefen in der Sendung "Lesart" als Sommerreihe "Mit Büchern reisen". Nun wird die Serie in der Rubrik "Originalton" fortgesetzt.

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