Originalton

Die erste Geschichte

Eine Schallplatte wird auf einem Plattenspieler abgespielt.
Eine Schallplatte wird auf einem Plattenspieler abgespielt. © picture alliance / dpa / Foto: Christoph Schmidt/dpa
Von Peggy Mädler · 21.10.2014
In ihrer Kindheit wurde die Autorin Peggy Mädler von einer ganz besonderen Geschichte geprägt: Hans Christian Andersens Märchen der Schneekönigin hörte sie damals als Schallplatte - und lernte dabei: auf die Tonart kommt es an.
Die erste Geschichte war kein Buch, sondern eine Langspielplatte. Zuvor gab es andere Geschichten, aber keine von ihnen nahm mich so fest an der Hand und führte mich so verlässlich durch die Kindheit – wie die Geschichte von Gerda und der Schneekönigin. Am Anfang: das Knistern der Nadel in der Rille und dann: ein einzelner Ton. Noch weitere sieben Male: dieser eine einzelne hohe Ton.
Jahre später glaubte ich, diesen Ton bei Arvo Pärt wiederzufinden – und hatte mich doch nur erinnert. Keine Ahnung, wie dieses Märchen bei Hans Christian Andersen geschrieben steht. Mag sein, dass es mit einer ähnlichen Wehmut beginnt. Als bräuchte es genau diesen Mut, um zurückzuschauen – auf eine Zeit, in der Schneeflocken große weiße Bienen sind und alte Großmütter ihre Geschichten erzählen. Als bräuchte es auch Mut, diese weißen Bienen und Großmütter eines Tages zu verlassen, um auf reißenden Flüssen, auf staubigen Feldwegen, durch dunkle Wälder und weiße Weiten in die Welt zu ziehen.
Und was findet Gerda? Im hohen Norden scheint die Ewigkeit ein aus spitzen Eisscherben zusammengesetztes Wort. Und beim Heimkehren ist die Tür zur Kindheit klein geworden. Mag sein, dass ein einzelner Ton dennoch die Jahre überdauert und sogar leise in ihnen mitschwingt. In den Geschichten, die man lebt und in denen, die man schreibt. Mag sein, dass man einen jeden Anfang rückblickend verändern könnte, indem man gerade die Tonart der Erzählung wechselt, von Dur auf Moll oder zurück von Moll auf Dur. So oder ganz anders.
Zu wünschen wäre vielleicht auch: man hätte den Tonfall des Endes in der Hand. Der Anfang ist: "Drinnen in der großen Stadt lebten zwei kleine Kinder. Er hieß Kay und sie hieß Gerda. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich ebenso gut, als ob sie es gewesen wären." Und in das Ende einer Kindheit oder einer Langspielplatte blühen Rosen hinein – "... und es war Sommer. Warmer, herrlicher Sommer."

Peggy Mädler wurde 1976 in Dresden geboren. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Dramaturgin. Sie ist Mitbegründerin des Künstlerkollektivs "Labor für kontrafaktisches Denken". Sie erhielt unter anderem das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste. "Legende vom Glück des Menschen", ihr erster Roman, erschien 2011 im Galiani Verlag. In der täglichen Rubrik "Originalton" der Sendung "Lesart" bitten wir Schriftsteller um kurze Texte.

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