Originalton

Das Mütterliche der Kleinstadt

Der Autor Patrick Roth, aufgenommen vor der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung am 22.6.2003 in Weimar. Der in Los Angeles lebende Schriftsteller wurde für seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen "Ins Tal der Schatten" und für die "Christus-Trilogie" mit dem Preis in Höhe von 15000 Euro geehrt.
Der Schriftsteller Patrick Roth © dpa / picture alliance / Jan-Peter Kasper
11.08.2014
Der Schriftsteller Patrick Roth hat viele Jahre in Los Angeles gelebt - im Zentrum der amerikanischen Filmindustrie. Filme haben schon immer sein Schreiben beeinflusst. Für die Lesart schlüpft der Autor in die Rolle des Filmkritikers. Eine Woche lang stellt er uns seine Lieblingsfilme vor.
Montag. Gespräch mit Ava, die gestern noch Thornton Wilders Our Town - die Version mit Paul Newman als Stage Manager - zu Ende gesehen hatte.
Mir kam während des Gesprächs zum ersten Mal ein, warum Emily, die Anima des Stücks, stirbt, jung stirbt. Auf die Szene der Hochzeit folgt unmittelbar die der Beerdigung. Weil beides "Hochzeiten" sind - Vermählungen, coniunctiones. Als George damals gehen-aber-gehalten werden wollte, weil er Emily liebte, schluckt ihn doch our town, "Unsere kleine Stadt", der mütterlich-unbewusste Aspekt des Städtchens. Ich erinnere mich der Szene zwischen den Verliebten, George und Emily, an der "Milchbar", wo mit Liebe und Süßigkeit das Ich in seiner Ambition, nach außen zu gehen, doch am Mütterlichen (der Frau und der Kleinstadt) festgemacht wird; letztlich bleibt es an ihnen kleben.
Das hieße psychologisch, dass die Anima dieses Mannes - projiziert auf Emily - nicht "inspirierend" wirkt, ihn nicht drängt, unbedingt nach außen zu gehen, sich Erfahrung und Wissen zu holen, sondern ihn bindet, vereinnahmt, schluckt. Deshalb stirbt Emily. Das wäre die heimliche psychologische Motivation für ihren frühen Tod. Der Tod der Anima wäre Anfang einer notwendigen Erneuerung, Wandlung der Anima-im-Mann, einer Neu-Geburt, mithin einer neuen Einstellung des Protagonisten - oder Autors - zum Unbewußten überhaupt, die für seine Individuation not-wendig wäre.
Aus dem Reich der Toten
In diesem Zusammenhang ist es ja interessant, dass Emily, im Totenreich angelangt, sich wünscht, noch einmal gerade an ihrem "Geburtstag" zurückzukehren. Darin eben läge der Wunsch der Anima, gewandelt zu werden, neu geboren zu werden. Ihr zurückkehrender Blick auf die Dinge verwandelt ja dann auch alles.
Sie sieht - als eine, die aus dem Reich des Unbewussten, "Reich der Toten" kommt -, das Alltägliche neu, d.h. alles, was uns sonst unbewusst bleibt, die kleinen unbeachteten Schritte und Handgriffe und Dinge, sieht sie - und bringt etwas hinzu, was ihr und uns im Alltag gefehlt hatte, meist fehlt: Bewusstsein. Alles, was sie beobachtet, ist nun mit Bewusstsein, sehnsüchtigem Bewusstsein durchströmt, alles leuchtet. Das ist ein Stück Wissen aus dem Unbewussten, hinübergerettet ins Leben und hier - im Stück - perfekt dramatisiert.
Man kann das im Alltag - wenn man daran denkt - auch nachvollziehen: Man kann einmal in die eigene Küche gehen, als käme man nach dem Tod wieder hin, als besuche man "noch einmal, dann aber nie mehr". Da nämlich fällt einem alles auf, leuchtet auf, was vorher unbemerkt geblieben war, noch das Kleinste fällt auf, alles sieht / erkennt und alle werden gesehen / erkannt.
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