Originalton

Ausgerechnet Neukölln, Teil I

Ein Hund sitzt in der Pannierstraße an der Ecke Weserstraße auf dem Gehweg vor der Kneipe "Freies Neukölln", fotografiert am 20.08.2013 in Berlin Neukölln.
Als Daniel Schreiber 2008 nach Neukölln zog, wollte hier niemand wohnen. Mittlerweile liegt Neukölln voll im Trend. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Daniel Schreiber · 29.09.2014
Seit 2008 wohnt Daniel Schreiber in Neukölln - doch richtig angekommen ist er in Berlin erst, nachdem er seine Wohnung renoviert und das Chaos beseitig, das sich in den vergangenen sechs Jahren ausgebreitet hatte.
Alles fing mit der Suche nach einer Bohrmaschine an. Es war zum Anfang des Sommers und ich wollte endlich Rollos in meinem Schlafzimmer anbringen. Das Zimmer liegt in Ostrichtung und zwischen Mai und Oktober ist es schon frühmorgens unerträglich hell. Während der vergangenen fünf Jahre hat mich das nie wirklich gestört. Dieses Jahr tat es das aus irgendeinem Grund.
Also stand ich nun in meiner Abstellkammer und suchte die Bohrmaschine, mit der ich die Rollos anbringen wollte, die ich am Tag zuvor bei jenem schwedischen Einrichtungshaus gekauft hatte, das man in solchen Situationen aufsucht.
Die nächsten drei Wochen sollte ich zu einem Dauergast im besagten Einrichtungshaus werden und im Baumarkt an der Ecke zum Volkspark Hasenheide. Denn, egal, wie sehr ich sie auch suchte, ich fand diese Bohrmaschine nicht. Bei der Suche aber stieß ich auf allerhand Sachen, die ich nie mehr in meinem Leben brauchen würde: eine alte Gästematratze. Sauber gebündelte Stapel von New-Yorker-Ausgaben, die bis in den Herbst 2008 zurückreichten. Einen Gartenschlauch, mit dem ich einen Sommer lang die Pflanzen auf meiner Terrasse gegossen hatte, der aber regelmäßig für Überschwemmungen sorgte. Jede Menge schon lange aussortierter Rotweingläser.
Also fasste ich kurzerhand den folgenschweren Entschluss, die gesamte Abstellkammer zu entrümpeln. Was einer archäologischen Ausgrabung glich und ganze zwei Tage in Anspruch nahm.
Ich war im Oktober 2008 in meine Neuköllner Wohnung gezogen. Die Jahre davor hatte ich in New York gewohnt. Ich war völlig verarmt und in Neukölln war es einfach am billigsten. Niemand wollte damals herziehen und manchmal erinnerte es mich an die schmuddeligen Ecken von Brooklyn. Für die bezahlbare Dachgeschosswohnung mit einer großen Terrasse war ich der einzige Bewerber.
Was aber nichts daran änderte, dass ich eigentlich nicht in Deutschland wohnen wollte und mir ein bisschen leidtat. Ich hatte schon in New York viel getrunken, in Berlin nahm das zu. Alle schienen das zu tun und es schien auch der beste Weg mit den Berliner Wintern umzugehen, die gefühlte neun Monate dauerten oder zehn.
Meine Abstellkammer und meine Wohnung reflektierten diese Einstellung. Von außen sah alles normal aus, drinnen herrschte großes Chaos. Schon nach einiger Zeit begann alles, langsam zu zerfallen, und ich tat nichts, um diesen Prozess aufzuhalten.
Nachdem ich die Bohrmaschine gefunden hatte, verbrachte ich drei Wochen mit der Renovierung meiner Wohnung. Ich sortierte mehrere Kubikmeter alter Sachen aus und gab sie weg. Die meisten Bücher verkaufte ich an ein Antiquariat. Im Abstellraum stellte ich Aufbewahrungsregale auf und installierte Wandschränke, Hängeregale und Handtuchhalter in Küche und Bad. Ich hing Rollos auf, Lampenschirme, einen großen Spiegel und eine neue Garderobe. Holte mir einen Waschbeckenunterschrank, was ich früher furchtbar spießig gefunden hätte.
Ich sortierte und wischte jeden Schrank der Wohnung aus, reinigte jeden Heizkörper, jede Tür, jedes Fenster, jede Fußleiste und jede Steckdose. Und als ich fertig war, hatte ich das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Es hatte fast sechs Jahre gebraucht. Ich hatte wirklich meine Wohnung gefunden. Ich war wirklich hier, ausgerechnet mitten in Neukölln.