Originalton

Ausgerechnet Neukölln, Teil 4

U-Bahnstation am Hermannplatz in Berlin Neukölln
U-Bahnstation am Hermannplatz in Berlin Neukölln © picture alliance / dpa / Foto: Tobias Kleinschmidt
Von Daniel Schreiber · 02.10.2014
Hermannplatz Berlin-Neukölln: Drum herum ist Daniel Schreibers Kiez. Der Obsthändler packt ihm immer ein paar Weintrauben mehr ein und die Blumenverkäuferin kennt seinen Blumengeschmack. Ein bisschen Nähe ist doch ganz schön in der Großstadt.
Neulich begegnete ich einer berühmten Kollegin im Fitnessstudio, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Unser Kontakt war nie über das rein Freundliche hinausgewachsen. Aber ich fand immer, dass ist schon mal was. Und zwischen Hantelbänken und Kniebeugemaschinen unterhielten wir uns kurz darüber, wie es uns ging. Es war ein nettes Gespräch, nichts Außergewöhnliches, doch ich war sehr froh darüber. Ich mag mein Fitnessstudio. Es tut gut, an einem Ort zu sein, wo solche Begegnungen möglich sind.
Bekannte Gesichter und freundliche Menschen
Großstädte sind seltsame, unnatürliche Orte und wir erwarten paradoxe Dinge von ihnen: Zum einen möchten wir größtmögliche Anonymität. Zum anderen möchten wir, dass diese Anonymität im Laufe des Tages mehrmals durchbrochen wird – von bekannten Gesichtern, freundlichen Menschen, Personen, die uns nahe stehen. Wir möchten selbst bestimmen, wie viel Nähe und wie viel Distanz unser Leben braucht. Wir möchten weitgehend unerkannt bleiben, aber eben auch nicht allein sein.
Wahrscheinlich kommen daher auch die nostalgischen Gefühle, die auftauchen, sobald Menschen über ihren "Kiez" sprechen. Denn der Kiez ist ein Raum, der diese paradoxen Erwartungen an unsere Lebenswelt zu einem gewissen Grad zu erfüllen scheint. Der Kiez ist eine Konstruktion von "Zuhause", die ideal ist für den heutigen Großstadtbewohner mit seinen Nähe- und Intimitätsproblemen. Ein Kiez bietet Heimatgefühle und Rückzugsmöglichkeiten zugleich.
Ich habe mich lange gegen das Kiez-Gefühl gewehrt. Und Neukölln schien auf der Gemütlichkeitsskala auch nicht ganz oben angesiedelt zu sein, als ich herzog. Denn damals bestand es vor allem noch aus "Problemkiezen", wie es immer bedrohlich in den Medien hieß.
Sich auf die Menschen einlassen
Aber seit ein paar Jahren lasse ich mich wirklich auf die Gegend und ihre Menschen hier ein. Wenn ich dem Briefträger im Hausflur begegne, drückt er mir meine Post in die Hand und wir tauschen uns kurz darüber aus, wie es uns geht. Gehe ich in den türkischen Spätkauf um die Ecke, um schnell noch Milch zu holen, treffe ich immer Leute, die ich kenne. Die vietnamesischen Floristen vom Laden gegenüber wissen inzwischen genau, dass ich vor allem einfarbige, einfache Blumensträuße mag.
Und der ungarische Obsthändler vom Markt auf dem Hermannplatz legt mir immer ein paar extra Weintrauben in die Tüte. Beim Gießen der Pflanzen auf meiner Terrasse, winke ich meinem Bekannten von Gegenüber zu, der auch schwul ist und im Sommer meistens in Badeshorts auf seinem Balkon sitzt. Und im Hausflur unterhalte ich mich immer mit ein paar meiner Nachbarn. Meistens freue ich mich sogar, wenn ich ihnen begegne.
Das mag nicht nach viel klingen, für mich ist es aber auch nicht wenig. Wahrscheinlich ist es so viel Zuhause, wie ich gerade ertragen kann. Das Wort "Problemkiez" habe ich in Bezug auf Neukölln übrigens schon lange nicht mehr gehört. Und zum Glück wüsste ich heute auch gar nicht mehr, was das zu bedeuten hätte.
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