Originalton

Annäherung an eine Diva

Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013
Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013 © dpa / picture alliance / Yves Noir
Von Marjana Gaponenko · 04.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Marjana Gaponenko.
"Nein, meine Liebe, Sie täuschen sich, es gibt keine angeborene Großzügigkeit", sagt sie dumpf und lacht. Selbst beim Lachen ist ihre Stimme belegt und klingt so, als würde sie in einen unsichtbaren Topf husten. Kaum zu glauben, dass diese alte Dame früher die Opernhäuser dieser Welt ihr Zuhause nannte. "Bescheidenheit, ja, aber das mit der angeborenen Großzügigkeit ist grober Unfug", Madame Gros hält inne, "hören Sie wie mein Magen grummelt, hört man das?"
Ich nicke: "Ja, ein bisschen, was haben Sie gegessen?"
"Gott, ist das peinlich", seufzt Madame Gros, ohne meine Frage zu beantworten.
Mit einem erschrockenen Gesicht schaut sie sich im mäßig gefüllten Wintergarten des Schlosshotels um und fährt fort: "Tja, die Großzügigkeit, urteilen Sie selbst, dient sie nicht opportunistischen und selbstsüchtigen Zwecken, wird man nicht in der Hoffnung auf einen Vorteil großzügig, oder einfach um die anderen zufrieden zu stellen, unter anderem sich selbst? Um sein Gewissen zu beruhigen? Verteilt man nicht deswegen Almosen, weil einem die innere Stimme sagt: An der Stelle dieses beinamputierten osteuropäischen Bettlers könntest du sein. Habe ich nicht Recht?"
"Sie haben Recht, Madame, auch ich ..."
"Auch Sie haben mich aus einem der Gründe zum Tee eingeladen", unterbricht mich Madame Gros und lacht wieder ihr farbloses Lachen, "entweder erhoffen Sie sich etwas Nützliches von unserem Gespräch, oder Sie gefallen sich in der Rolle der Wohltäterin. Was wollen Sie überhaupt von mir?"
Leicht vorgebeugt sitzt die Operndiva vor mir am Tisch, den Blick auf ihre fuchsrot lackierten Fingernägel gerichtet. "Was ich von Ihnen will", sage ich belustigt, obwohl mir immer weniger zum Lachen zumute ist, "was ich will, ist die Essenz Ihrer Lebenserfahrung; wissen Sie, ich sammle Gedanken überragender Menschen für ein Theaterstück das ich gerade schreibe".
"Oh, oh, oh...", Madame Gros lehnt sich im Stuhl zurück und wischt mir dabei mit einem Parfümschleier durchs Gesicht. "Hätten Sie mir eben nicht geschmeichelt, hätte ich Ihnen diese Essenz gerne serviert. Na, jetzt schauen Sie aber sehr verdutzt, das macht Sie älter. Wie alt sind Sie?"
"33", antworte ich.
"Oh, oh, mit 33 ist Jesus gestorben", sagt Madame Gros. Nach einer qualvollen Pause fügt sie vertraulich hinzu: "Kommen Sie morgen."

Die Originaltöne kommen in dieser Woche von der jungen, in Odessa geborenen, auf Deutsch schreibenden Autorin Marjana Gaponenko. Sie lebt in Mainz und Wien und unterhält sich in einem Caféhaus mit einer älteren Dame.