Orientierungslos durch die Finanzwelt

Von Volker Trauth · 20.01.2013
Zwei Stücke beschäftigen sich am Staatstheater Mainz mit einer aus den Fugen geratenen Wirtschaftswelt. Unser Kritiker hat beide gesehen - und findet: Nur eine der Aufführungen ist wirklich gelungen.
Kathrin Röggla knüpft mit den "Machthabern" an Grundabsichten früherer Stücke an: schwer durchschaubare gesellschaftliche Prozesse übersetzen zu wollen in ein konzertantes Echo aus Meinungen, Stimmungen und Behauptungen. Wieder treten Textträger ohne Biografie und individuelles Profil auf. In einer kargen Bürolandschaft geraten "der eine", "der andere", "er" und "sie" in eine verbale Auseinandersetzung. Sie interpretieren den Wortlaut eines E-Mail-Verkehrs zwischen einem unsichtbaren "Ich" und dessen Anklägern, die ihm vorwerfen, durch gewagte Transaktionen den Tsunami ausgelöst zu haben. Der verteidigt sich, in dem er den Beleidigern vorwirft, am "kapitalistischen Experiment" freiwillig teilgenommen zu haben. Benutzt wird die aggressive Sprache des Börsenkrieges. Von bevorstehender Köpfung ist die Rede, von Selbstmordlisten und den Tagesordnungspunkten des Weltuntergangs. Politiker machen das dumme Wahlfußvolk verantwortlich und ein Notenbankchef verkündet, dass ein großes Beben vor der Tür steht.

Regisseur Johannes Schmit hat vergeblich versucht, den kopflastigen Text theatralisch aufzubrechen. Er stellt die Textlieferanten mit Ballettkleidung und Rokokokostümen auf einen hellerleuchteten Laufsteg. Über den kriechen, trippeln, schweben und tanzen sie. Sie deuten Raubtiergesten an und flüchten wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Unter Textaufsagen studiert ein Ballettsolist mit wechselnden Partnerinnen Hebefiguren aus, vier andere führen beim Reden die immer gleichen monotonen Bewegungen aus. Immer wieder wirkungssüchtige überflüssige Regiezutaten. Als Politiker kleben die vier Sprecher einer zäh klebrigen Masse fest, während ihren Mündern zäh klebrige Phrasen entfleuchen. All solcher Schnickschnack aber kann die von Schauspielern skizzierte dramatische Figur mit konkretem Hintergrund und konkreter Wirkungsabsicht nicht ersetzen.

Philipp Glogers Inszenierung - ein Talentbeweis
Vom Finanzmarkt ist auch in Philipp Löhles Stück "Nullen und Einsen" die Rede, von der Notwendigkeit der Stabilität als seiner Überlebensvoraussetzung. Für die Figuren in Löhles Stück ist aber Stabilität eine Schreckensvorstellung, gleichbedeutend mit enervierender Erstarrung. Sie wollen heraus aus ihrer Haut, hinein in eine neue Identität. Der Zahlenanalytiker Moritz sucht nach einer Formel für die Errechenbarkeit der Welt und der eigenen Zukunft. Diese ihm von einem Obdachlosen verratene Formel stürzt ihn und seine Partnerfiguren aber ins Chaos. Er verdreifacht sich, weil gleich zwei seiner Zeitgenossen ihm mit den Papieren die Identität rauben. Entsetzt muss er feststellen, dass er sich selber abhanden gekommen ist.

Philipp Glogers Inszenierung ist zweifelsohne ein Talentbeweis. Er stellt die einzelnen Ereignissplitter nicht unvermittelt nebeneinander, sondern verwebt sie zu einem Handlungsteppich von Szenen einer aus den Fugen geratenen Welt. Im Realen sucht er das Absurde und im Absurden das Reale. Seine besten Momente hat die Inszenierung, wenn sich die vielen Umwandlungen und Mutationen zu einer wahren Orgie des Missverstehens aufgipfeln. Wenn Moritz (Felix Mühlen) mit tragischer Vergeblichkeit gegen den drohenden Identitätsverlust ankämpft und sich entsetzt vorstellt, er rufe zu Hause an und ein anderes Ich gehe ans Telefon, dann hat das die philosophische Tiefe vom Entsetzensschrei des Grafen Wetter vom Strahl aus dem "Käthchen von Heilbronn": "Hilfe, ich bin doppelt".

Im Gegensatz zur Inszenierung von Kathrin Rögglas "Machthaber" gewinnen hier die Schauspieler ein unverwechselbares Eigenleben - auch Mathias Spaan als der Mediziner Jonas, der sich Moritz' Identität erschwindelt hat und nun mit geschwollener Stirnader darum kämpft, in seine alte zurückkehren zu können.