Orhan Pamuk: "Diese Fremdheit in mir"

Überlebenskampf in der Mega-City

Die Blaue Moschee in Istanbul
Istanbul: Orhan Pamuks Heimatstadt und das zentrale Thema seiner Romane. © dpa/picture alliance/Daniel Gammert
Von Sigrid Löffler · 21.04.2016
In "Diese Fremdheit in mir" erzählt Orhan Pamuk die Geschichte zweier Brüder, die aus einem anatolischen Dorf in die wachsende Millionenstadt Istanbul ziehen. Die eigentliche Heldin des Romans ist jedoch - Istanbul selbst.
Seit ihm 2006 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, fallen im Schreiben des türkischen Erzählers Orhan Pamuk einige neue Züge auf. Seine Heimatstadt Istanbul ist inzwischen sein zentrales Thema geworden, das alle anderen Themen verdrängt. Und gegenüber seinen literarisch avancierten Romanen der 1990er-Jahre ("Das schwarze Buch", "Rot ist mein Name") bemerkt man einen ästhetischen Rückschritt - hin zum Melodram und zum gemütvoll und detailreich ausgemalten Alltagsrealismus.
Wie schon in seinem Groß-Essay "Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt" (2006) ist auch in Pamuks neuem Roman "Diese Fremdheit in mir" die Doppelstadt am Bosporus die eigentliche Heldin der Erzählung. In seinem Essay trauerte Pamuk als gebildeter und feinsinniger Stadt-Flaneur voll Melancholie dem Verschwinden der schönen osmanischen Vielvölkermetropole nach, weil deren klassische Minderheiten - Griechen, Juden, Armenier, Kurden - vertrieben worden waren und deren letzte historische Architektur-Überreste aus osmanischer Zeit der Bauwut einer minderwertigen westlichen Moderne weichen mussten. Und nun, in seinem neuen Roman, tritt Pamuk über weite Strecken als Stadtsoziologe auf, wenn er erzählt, wie Istanbul in den letzten 50 Jahren zur Weltstadt demoliert wurde.

Istanbul - eine explodierende Mega-City

Er beschreibt die explodierende Mega-City Istanbul von unten, aus der Sicht anatolischer Zuwanderer, die sich auf der Suche nach einem besseren Leben am Stadtrand niederlassen und sich von dort eine städtische Existenz aufzubauen versuchen.
Der Roman liefert eine genaue stadtsoziologische Beschreibung des chaotischen Wachstums Istanbuls, dessen Bevölkerung infolge der massenhaften Armutsimmigration aus dem bäuerlichen Hinterland Anatoliens binnen weniger Jahrzehnte von anderthalb auf 14 Millionen Einwohner explodierte.
Diese Menschen treiben einerseits das Projekt ihrer eigenen Urbanisierung voran, halten aber andererseits auch in der Stadt an ihrer traditionellen dörflichen patriarchalischen Wertewelt fest, etwa an Töchterschacher, Brautkauf und rigider Reglementierung des Lebens der Frauen sowie an der Verpflichtung, Familienangehörige innerhalb der Großfamilien zu versorgen.
Am Beispiel zweier Brüder aus einem anatolischen Dorf und deren Familien, die in Istanbul Fuß zu fassen suchen, erzählt Pamuk die Geschichte der türkischen Binnen-Migration von Ost nach West. Er beschreibt gelingende und scheiternde Integration und schildert, wie sich die Zuzügler in ein, zwei Generationen urbanisieren und wie dabei sie selbst und die Stadt einander wechselseitig verändern.
Sein Roman ist alles zugleich: präzise recherchierte Migrations- und Stadtgeschichte, ausufernder Familienroman über vier Generationen und Entwicklungsgeschichte eines glücklichen Träumers und Versagers namens Mevlut.

Vom Straßenhändler zum Bauunternehmer

Beide Brüder kommen 1963 nach Istanbul, lassen sich in illegalen, über Nacht selbstgebauten Hütten, sogenannten Gecekondus, auf den Hügeln vor der Stadt nieder und beginnen als Straßenhändler, die Yoghurt und Boza verkaufen, ein schwach alkoholisches Hirsebier.
Der ältere Bruder bringt es zu einem Krämerladen, seine Söhne werden in der Baubranche reich, als die Stadt den Slum-Gürtel einzugemeinden beginnt, als der Bauboom den Hütten-Wildwuchs überrollt, der Baugrund im Wert steigt und bald schlecht gebaute Hochhäuser die Stelle der alten Gecekondus einnehmen.
Dem jüngeren Bruder misslingt der Aufstieg. Er und sein Sohn Mevlut schuften lebenslang mit ihren Yoghurt-Eimern und Boza-Krügen unter dem Tragejoch, bleiben jedoch arm. Mevlut ist Pamuks Hauptheld; dessen mühseliges Überleben in der Stadt vom zwölften bis zum 55. Lebensjahr bildet das Zentrum des Romans und wird von mehreren Erzählstimmen sowie einem auktorialen Erzähler bezeugt.

Einblick in den Alltag der kleinen Leute

Der treuherzige, gutmütige und verträumte Mevlut ist Schulabbrecher und plagt sich von Kindesbeinen an in prekären ambulanten Tätigkeiten - als Straßenverkäufer, Parkplatzwächter oder Stromableser. Er bleibt sein Leben lang von der Hilfe seiner erfolgreichen Cousins abhängig und wird vielfach betrogen, ohne sich wehren zu können. So wird ihm etwa die falsche Braut zugeschoben. Mit dem falschen Mädchen wird Mevlut dennoch glücklich und ist mit seinem Leben zufrieden, auch wenn er darin immer etwas fremdelt.
Pamuks Erzählton verzichtet auf große Gefühlsamplituden und auf Spannungsaufbau. Er ist gleichbleibend milde entspannt und seinen Figuren freundlich zugewandt, vor allem dem herzensguten, genügsamen Mevlut. Die Lektüre lohnt sich dennoch, trotz mancher Wiederholungen und Redundanzen - vor allem wegen des Einblicks in den türkischen Alltag der kleinen Leute.

Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Hanser Verlag, München 2016
588 Seiten, 26,00 Euro

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