Oper Lyon

Verstörende Intensität und scheiternde Träume

Die heutige Opera Nouvel in Lyon wurde nach dem französichen Architekten Jean Nouvel benannt, der auf ein altes Operngebäude aus dem Jahr 1756 ein tonnenfömiges Obergeschoss zwischen 1985 und 1993 setzte. Sie beherbergt die Nationaloper von Lyon.
Die heutige Opera Nouvel in Lyon wurde nach dem französichen Architekten Jean Nouvel benannt. © picture alliance / dpa / Thomas Muncke
Von Uwe Friedrich · 12.04.2014
Die Oper Lyon ehrt dieses Jahr den englischen Komponisten Benjamin Britten. Die Novelle "The Turn of the Screw" sorgt dabei für unangenehmen Grusel im Publikum.
Auf dem englischen Landsitz Bly tun sich merkwürdige Dinge. Der Knabe Miles scheint ein dunkles Geheimnis zu hüten, auch das Mädchen Flora benimmt sich eigenartig. Schnell hat die neue Gouvernante den Verdacht, das könnte mit dem früheren Erzieher Peter Quint und der Hauslehrerin Miss Jessel zu tun haben. Die Gouvernante meint, Peter Quint am Fenster gesehen zu haben, erfährt aber von der Haushälterin Mrs. Grose, dass dieser vor einiger Zeit tödlich verunglückt ist, Miss Jessel habe sich das Leben genommen.
Handelt es sich nun um eine Gespenstergeschichte oder um die psychologische Gestaltung des sexuellen Missbrauchs der Kinder? Der amerikanische Schriftsteller Henry James ließ das in seiner Novelle "The Turn of the Screw" ebenso kunstvoll offen wie der englische Komponist Benjamin Britten in seiner Kammeroper für sechs Solisten und 14 Musiker.
Die Regisseurin Valentina Carrasco erzählt diese Schauergeschichte in Lyon als Wahngespinst der Gouvernante. Je häufiger die beiden Toten in Erscheinung treten, umso mehr Möbel verfangen sich in den wuchernden Spinnweben, fliegen durch den Raum und geraten in bedrohliche Schieflage. Die weißgekleideten Kinder sind längst nicht so unschuldig wie zunächst angenommen und kokettieren offensiv mit ihren destruktiven Fantasien. Immer verzweifelter agiert die Gouvernante am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Verstörende Intensität
Das alles zeigt Valentina Carrasco in ihrer subtilen Personenführung. Wenn Peter Quint sich zu Miles ins Kinderbett legt, muss der sexuelle Missbrauch gar nicht deutlich gezeigt werden, um für unangenehmen Grusel im Publikum zu sorgen. Der Knabensopran Remo Ragonese ist ein Miles von geradezu verstörender Intensität, der die Rolle hochvirtuos singt. Verführerisch gestaltet der Tenor Andrew Tortise die Koloraturen des Peter Quint, dämonisch in jeder Phrase verführt Giselle Allen als Miss Jessel die kleine Flora.
Der Dirigent Kzushi Ono lässt die 14 Instrumentalsolisten des Lyoner Opernorchesters betont lyrisch spielen und versteckt die Abgründe der Handlung unter einer weichen Oberfläche, ohne sie zu verdecken. Das Ergebnis ist ein Opernabend von beträchtlicher Sogwirkung, auch wenn die Regisseurin einige ihrer beeindruckenden Theaterbilder sehr umständlich und wenig elegant aufbauen muss.
Bereits am Abend vorher hatte der Schauspieler und Regisseur Yoshi Oida seine Inszenierung des Fischerdramas "Peter Grimes" vorgestellt. Die sehr weite Bühne der Lyoner ist weit geöffnet, als Bühnenbilder fungieren verrostete Überseecontainer, die immer wieder in neuen Kombinationen hin und her geschoben werden. Hier treiben die Bewohner des kleinen Fischerstädtchens ihr Wesen, beschäftigen sich in pittoresk viktorianischen Kostümen mit Fischernetzen und löchrigen Ruderbooten. Allerdings beschränkt sich der Regisseur darauf, die Handlung effektiv zu arrangieren, so dass die Solisten zwar jeweils zu ihrem Auftritt schön weit vorne stehen und frontal in den Zuschauerraum singen können. Die Vielschichtigkeit von Benjamin Brittens Personenzeichnung bleibt dabei schnell auf der Strecke.
Das Klischee einer großen Oper
Wo sich in der Musik utopische Räume öffnen, etwa im Frauenquartett oder in Peters großen Visionen, bleibt in Lyon bloß die Routine versierter Opernsänger. Statt Mitleid für im Grunde unsympathische Figuren einer kleinstädtischen Welt zu erzeugen, dürfen die Sänger bloß das Klischee einer großen Oper abliefern. Dabei singt der Tenor Alan Oke einen lyrischen Peter Grimes, der sicher das Potential hat, die Zuschauer trotz aller Brutalität auf seine Seite zu ziehen.
Michaela Kaune ist als Ellen Orford ein eher spätes Mädchen, das gleichwohl noch seinen Sehnsüchten nachhängt und erst spät merkt, dass ihre Träume zum Scheitern verurteilt sind. Leider bleibt Andrew Foster-Williams als Balstrode erstaunlich blass, während die übrigen Rollen durchweg gut gesungen werden.
Kazushi Ono lässt den hervorragend einstudierten Chor machtvoll aufbrausen und hat den Orchesterklang stets unter Kontrolle, wenn es darum geht, den Sängern musikalisch alle Gestaltungsmöglichkeiten zu bieten. So kann sich "Peter Grimes" auf der musikalischen Ebene gegen eine belanglose Regie behaupten, auch wenn die Publikumsreaktion deutlich verhaltener ausfiel als nach "The Turn of the Screw".