Oper als Dorfmesse

Rezensiert von Bernhard Doppler · 24.06.2007
Von Skandal keine Spur, wenn der Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch, der mit öffentlichen Schlachtungen, blasphemischen Kreuzigungen und exstatischen Blutüberschüttungen nackter gefesselter Körper immer wieder wütende Aggressionen auf sich gezogen hat, eine Oper inszeniert! Zwar tröpfelte der Beifall zwischen den einzelnen Szenen zunächst noch etwas zaghaft, doch beim Schlussapplaus wird Nitsch, der mit seinem riesigen Bart inzwischen ein wenig wie Gottvater im Kinderbuch aussieht, von dem sonst durchaus buhfreudigen Züricher Premierenpublikum freundlich begrüßt.
Was ist da geschehen? Der von Skandalen begleitete Wiener Aktionismus der Sechziger-Jahre, bei dem die Maler vom Tafelbild in die Wirklichkeit der Aktion wechselten -"Rot" nicht Farbe, sondern erlebtes, sinnlich erfahrbar gemachtes Blut! - ist inzwischen nicht nur im Museum angekommen, sondern wird nun also sogar im Theater nachgestellt. Doch das Schwein, das auf der Bühne geschlachtet wird, ist im Züricher Opernhaus nur Imitat, auch seine Gedärme, Nieren und Leber, die ausgeweidet und wieder eingefüllt werden, sind nur Theaterplastik und das Blut rotes Theaterblut.

Hermann Nitsch als Regisseur für Robert Schuhmanns "Szenen aus Goethes Faust" zu gewinnen, leuchtet dramaturgisch ein. Schumann nennt sein Werk "Szenen", es ist sicherlich opernhaft, aber mehr doch ein Oratorium, ein "weltliches Oratorium" - der Dirigent Franz Welser-Möst setzt es mit Konzertstücken wie Mahlers "Lied von der Erde" in Verbindung - , vor allem aber ein Erlösungs-Ritual.

Schumann geht in seinen "Szenen", die er wörtlich von Goethe übernimmt, vor allem von Faust II und seiner breit ausgemalten Verklärung am Ende aus. Drei Stufen der Sublimierung werden vorgestellt, bis der "Chorus mysticus" im Finale verzückt verkündet "Das Unbeschreibliche hier ist's getan, das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!"

Mit dieser Schumann-Goethe-Vorgabe kann Hermann Nitsch sein Lebenswerk, das von ihm in seinem Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf entwickelte OMT (="Orgien-Mysterien-Theater") auf dem Theater nachstellen. Eine vollkommen leere Bühne, am Boden nur Markierungen wie für Spielfelder in einer Turnhalle, doch auf der die Bühne abschließenden Leinwand ein rasanter Wechsel von Farben und in sich überlappenden Videoprojektionen: Abstraktes, aber auch Gegenständliches - dann meist Fotos von Herbstblättern, Dorfaltären und Weintrauben - ist zu sehen.

Die Opernfiguren davor sind nicht individuell kostümiert, sondern tragen allesamt priesterliche Messgewänder, die in Nitschs Philosophie gleichzeitig auch Malerkittel sind. Dreimal wird Faust erhöht, dreimal sein - in der Gretchenszene blutig durch ein Opfertier besudeltes - Gewand rituell gewechselt, dreimal sein Körper von Frauen gereinigt und auf ein Kreuzgestell geschnallt.

Das ist alles nicht weit von religiöser Folklore und sakralem Kitsch entfernt, insbesondere in den militärischen Aufstellungen des Chors und seinen Prozessionen. Auf psychologische Personenführung verzichtet Nitsch ja konsequent!

Manchmal schmunzelt man über Banales: die schwarzen und weißen Plastikeimer, die bei der Schlachtung bereit stehen oder die fachkundigen Griffe beim Ab- und Anschnallen an die Kreuze: Man denkt bei den Priesterinnen an assistierende Krankenschwestern im Operationssaal.

Aber die kahl geschorenen Köpfe des Chores erweisen nicht die Zugehörigkeit zu einer verschworenen Sekte, die in Nitschs Orgie eine existentielle Erfahrungen sucht, die Glatzen sind Theaterperücken; das Orgien-Mysterium ein theatralischer Schwindel! Womit man wieder beim konservativen Opernpublikum wäre: das Gesamtkunstwerk Oper als Ersatzreligion.

Schumanns Idee eines durch Goethe inspirierten Erlösungsrituals kam Nitschs Konzept also durchaus entgegen, weniger aber seiner Musik; zu sehr hielten seine Aktionen die Aufmerksamkeit gefangen. So interessierte das Orchester der Oper Zürich vor allem bei geschlossenem Vorhang in der Ouvertüre, wenn Franz Welser-Möst mit Beethovschem Pathos eröffnete und dann eindrucksvoll und feinnervig modern zerfaserte.

Imposant auch die vielen Chöre (Ernst Raffelsberger) und eindrucksvoll einige Solisten wie etwa Eva Liebau als Sorge - doch ganz besonders aufhorchen ließ Simon Keenlyside als Faust. Er fesselte das Interesse durch vielerlei bravouröse stimmliche Wandlungen. Wenn Keenlyside mit einem Kind im Arm - dem Christuskind wohl - ganz zart, ganz geläutert von der Welt Abschied nimmt, da die "Spur von seinen Erdentagen" nicht in "Äonen" untergehen kann, ist "es", ist die Erlösung geheimnisvoll "vollbracht" - nicht durch Nitsch, sondern durch die Stimme eines Sängers.