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Suizid
Das Ende eines Tabus

Selbsttötung wird in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedlich bewertet. In der christlich-abendländischen Kultur war der Suizid lange tabuisiert. Jetzt beginnt sich das langsam zu ändern, wie der österreichische Kulturwissenschaftler Thomas Macho in seiner Studie "Das Leben nehmen" konstatiert.

Von Günter Kaindlstorfer | 04.12.2017
    Thomas Macho: "Das Leben nehmen - Suizid in der Moderne"
    Es gibt kaum einen Aspekt des Themas, dem sich der renommierte Kulturwissenschaftler nicht ausführlich widmen würde. (Suhrkamp / picture alliance)
    Versuchter Suizid, das galt in Großbritannien noch bis zu Beginn der 1960er Jahre als kriminelles Delikt. Ein Londoner Gericht verurteilte im Dezember 1941 die Jüdin Irene Coffee zum Tod durch den Strang. Die junge Frau hatte zwei Monate zuvor - gemeinsam mit ihrer Mutter - eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen, um sich das Leben zu nehmen. Die Mutter starb, die Tochter überlebte und wurde nach geltendem Gesetz des Mordes angeklagt. Die Todesstrafe für Irene Coffee wurde erst im allerletzten Augenblick in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.
    Sowohl im Judentum als auch im Christentum ist die Selbsttötung streng tabuisiert und als Sünde gebrandmarkt - eine Tradition, die ihren Niederschlag über Jahrhunderte hinweg auch in der westlichen Judikatur gefunden hat, wie Thomas Macho in seiner Studie belegt. Erst vor 120, 130 Jahren begann sich das zu ändern.
    "Die Frage nach dem Suizid ist ein zentrales Leitmotiv der Moderne..."...schreibt Macho.
    "Seit dem Fin de Siècle, spätestens aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat sich die radikale Umwertung des Suizids auf mehreren kulturellen Feldern vollzogen."
    Friedrich Nietzsche und Jean Améry gehörten zu den prominentesten Autoren, die die Verdammung des Suizids zurückwiesen und für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod eintraten.
    Die "Quintessenz der Moderne"
    Für den Philosophen Walter Benjamin war die Frage nach dem Selbstmord gar so etwas wie die "Quintessenz der Moderne". Thomas Macho hat die Benjaminsche Formulierung seinem Buch als Motto vorangestellt: "Ich fand diese Bemerkung Benjamins hochsignifikant und spannend und auch wichtig für mein Thema, weil man die Moderne durchaus beschreiben kann als einen Prozess allmählicher Umwertung des Suizids. Dazu muss man nur ein bisschen in die Geschichte zurückblicken. Noch im 17. und 18. Jahrhundert ist der Suizid in vielen Ländern schlicht in vielen Ländern ein Verbrechen. Er ist nach Ansicht vieler Religionen eine Sünde, die von Gott bestraft wird. Im 17. Jahrhundert gibt es sogar Theologen, die sagen, der Suizid sei schlimmer als der Mord, denn eigentlich sei es ein Doppelmord, der nicht nur am Körper, sondern auch an der Seele begangen wird und so weiter. Und die Moderne hat in vielen Feldern damit begonnen, die Ächtung des Suizids aufzuheben und zu relativieren."
    Mit dem Aufstieg der modernen Wissenschaft wurde der Suizid mehr und mehr vom Odium des Verbrecherischen befreit. In der Medizin wie in der Psychologie begann sich die Einsicht durchzusetzen, dass es in der Regel Depressionen oder psychotische Störungen waren, die hinter vielen, wenn nicht den meisten Akten der Selbsttötung standen. Im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Suizid nach und nach vom "Verbrechen" zur "Krankheit" uminterpretiert:
    "Und dieses Phänomen, das heißt, dass man der Kriminalisierung und Moralisierung jetzt unter theologischen Rahmenbedingungen zu entgehen versuchte, indem man ihn zur Krankheit erklärt hat, das beschäftigt uns noch heute. Und wir stehen im Moment an der Schwelle zu einer großen Ent-Pathologisierung des Suizids. Wenn man sich das historisch ansieht, könnte man sagen: Erst kam so etwas wie eine vorsichtige Ent-Moralisierung, etwa im Denken der Aufklärung. Dann kam die Entkriminalisierung. Der dritte Schritt, der jetzt ansteht, ist die Ent-Pathologisierung. Die eine neue Haltung gegenüber dem Suizid notwendig macht und erfordert."
    Vom christlichen Märtyrer bis zum Selbstmordattentäter
    Mein Leben gehört mir - das bedeutet: Ich habe auch das Recht, es kraft meiner eigenen Entscheidung zu beenden. Das ist das neue Paradigma, das sich Thomas Machos Einschätzung nach heute immer mehr und mehr durchsetzt, etwa auch in den hitzigen Diskussionen um die Themen Sterbehilfe und assistierter Suizid.
    "Der Suizid ist in der Moderne zu einer 'Selbsttechnik' - nach einem Begriff Michel Foucaults - avanciert, in enger Verbindung mit anderen Selbsttechniken wie Schreiben, Lesen oder Bildermachen. Die Idee, dass ich und mein Leben mir gehören, verkörpert sich heute vor allem in der paradoxen Forderung, mein Tod solle mir gehören. Der eigene Tod wird zum Projekt, das ich selbst gestalten und nicht irgendwelchen Institutionen oder Angehörigen überlassen will."
    Thomas Machos Buch ist eine großangelegte Kulturgeschichte des Suizids. Es gibt kaum einen Aspekt des Themas, dem sich der renommierte Kulturwissenschaftler nicht ausführlich widmen würde: von der Bewertung des Suizids in der Antike über den Märtyrerkult des frühen Christentums, bis hin zu mehr oder minder spektakulären Suizid-Darstellungen in Malerei, Literatur und Musik, vom "Werther" bis zur "Tosca". Auch der japanische Seppuku-Kult und die wollüstige Todesverliebtheit islamistischer Suicide-Bomber von heute werden angemessen analysiert. Macho widmet sich nicht zuletzt der etwas bizarr klingenden Frage, ob Suizide auch im Tierreich vorkommen:
    "Es ist zumindest eine Grauzone. Zum Suizid in dem Sinne, in dem wir den Suizid planen und vielleicht durch einen Abschiedsbrief dokumentieren - sicher nicht. Aber es gibt Todesformen unter Tieren, die an einen Suizid erinnern. Es gibt zum Beispiel diese rätselhafte Brücke in Schottland, wo angeblich über sechzig Hunde Suizid begangen haben sollen, indem sie von der Brücke gesprungen sind. Ganz geklärt ist es noch nicht."
    Das zur Selbsttötung fähige Wesen
    In erster Linie freilich beschäftigt sich Thomas Macho mit dem Suizid als spezifisch menschlichem Phänomen. Der Mensch, so könnte man ihn definieren, ist das zur Selbsttötung fähige Tier. Hat Macho das Thema Suizid denn für sich persönlich geklärt?
    "Ja so halb, würde ich sagen, und zwar auch tatsächlich während der Arbeit an diesem Buch. Ich glaube tatsächlich, dass ich bestimmte Lebensumstände, die durch hohes Alter oder bestimmte Krankheiten verschärft werden können, lieber nicht erleben möchte. Und auch meinen Angehörigen nicht zumuten wollen würde. Das klar entscheiden zu können, das ist mir schon ganz wichtig."
    Thomas Macho bleibt streng sachlich in seinem Buch: Verführerische Suizid-Szenen, die zur Nachahmung einladen könnten, wird man in diesem Band vergeblich suchen. Und das ist gut so. Denn Macho betreibt Wissenschaft, keine Propaganda - weder in der einen, noch in der anderen Richtung.
    Thomas Macho: "Das Leben nehmen - Suizid in der Moderne"
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 531 Seiten, 28 Euro