Online-Engagement ist oft nur "symbolische Partizipation"

Gary S. Schaal im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 16.09.2013
Eine Studie zur politischen Beteiligung von 22- bis 35-Jährigen kommt zu dem Ergebnis, dass fehlendes politisches Engagement von jungen Menschen nicht durch deren Aktivitäten im Netz ausgeglichen wird. Der Studienleiter Gary S. Schaal spricht von einem "Mythos".
Liane von Billerbeck: Längst ist das Internet zur Wahlkampfplattform geworden. Steinbrück lässt twittern und die Kanzlerin natürlich auch. Und das nährt die Hoffnungen auf ungeahnte Möglichkeiten der politischen Teilhabe, vor allem der jüngeren Generation, der sogenannten Digital Natives, also der, die mit dem Internet aufgewachsen sind. Dass Politik im Netz gemacht wird, ist offensichtlich, zugleich aber wird immer wieder beklagt, dass weniger junge Menschen zur Wahl gehen. Bleibt die Frage, wird die Demokratie also digitaler? Lautet die Devise "Surfen statt Wählen"?

In einer gerade entstehenden repräsentativen Studie untersucht der Hamburger Politikwissenschaftler Gary S. Schaal von der Helmut-Schmidt-Universität die politische Beteiligung von 22- bis 35-Jährigen online und offline, und er ist jetzt bei uns im Studio. Grüße Sie, Herr Schaal.

Gary S. Schaal: Guten Morgen.

von Billerbeck: Geringe Wahlbeteiligung wird ja immer beklagt, gerade jüngerer Leute. Kann man denn junge Erwachsene im Internet zum Wählen mobilisieren?

Schaal: Es gibt einen Mythos, wonach die geringere Beteiligung von jungen Erwachsenen in der Offline-World, also bei Wahlen oder anderem, sich dadurch kompensieren lässt, dass sie einfach im Internet viel aktiver sind. Und dieser Mythos hat sich bisher sehr gut gehalten, weil es wenig repräsentative Studien gibt. Typischerweise gibt es Online-Fragebögen, und dort partizipieren diejenigen, die sowieso aktiv sind. Und die Thyssen-Stiftung hat uns die Möglichkeit gegeben, eine repräsentative Studie durchzuführen, und das Ergebnis ist relativ erstaunlich. Das Ergebnis lautet nämlich: Man kann mit Online-Partizipation die Defizite der Offline-Partizipation nicht kompensieren.

von Billerbeck: Das heißt also – Sie haben ja gleich vom Mythos gesprochen – sind denn im Netz überhaupt diese Generation, von der Sie jetzt sprechen, die 22- bis 35-Jährigen, also die jüngeren Erwachsenen, die Unter-40-Jährigen, sind die denn eigentlich für die Parteien und ihre Botschaften erreichbar, oder ist im Netz das, was Steinbrück und Merkel zu sagen haben, für die ganz fern?

Schaal: Das Internet ist auf jeden Fall ein Medium, mit dem man sich informiert. Allerdings würden die Jugendlichen und jungen Erwachsenen eher auf Interaktivität setzen, und die Internetangebote der deutschen Parteien sind vor allem Push-Medien, Push-Angebote. Man hat Informationen, aber es fehlt an Interaktivität. Und gerade hat eine andere Studie gezeigt, dass die Aktivität auf Facebook und Twitter für die Parteien nicht besonders mobilisierungsförderlich ist. Also mit anderen Worten, die Energien, die dort hineingehen, verpuffen so ein bisschen.

von Billerbeck: Das heißt, man könnte das alles weglassen, das landet bei dieser Generation gar nicht?

Schaal: Ich glaube nicht, dass man das weglassen kann, weil man heute in der Generation erwartet, dass Parteien auch auf diesen Kanälen tatsächlich zu erreichen sind. Was aber deutlich ist, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Parteien mit Ausnahme der Piraten sehr wenig Kompetenz in diesem Bereich zusprechen und dementsprechend von ihnen auch wenig erwarten.

"Fehlende "Einflugschneisen" ins politische System"
von Billerbeck: Nun ist ja die Frage, wie aktiviert man diese Generation, sich politisch zu beteiligen? Sie haben gesagt, der Mythos ist quasi durch Ihre Studie widerlegt. Also, die sind nicht aktiver im Internet als in der realen Welt. Wie belegen Sie das?

Schaal: Es gibt heute die Überschrift des "Spiegels", wonach es immer mehr Nichtwähler gibt, und das Problem, dass damit unsere Demokratie ein Legitimationsproblem bekommt. Das Problem aus meiner Perspektive ist, dass wir uns sehr stark auf die Wahlen, auf so eine demokratische Kultur hin fokussiert haben, dass die jungen Erwachsenen weniger in so einer ganz allgemeinen Partizipationskultur leben, sondern sehr spezifisch aktivierbar sind, für spezifische, kurzfristige einzelne Fragen sind sie aktivierbar, und wenn sie sich beteiligen wollen, dann auch, um tatsächlich Einfluss zu nehmen auf das politische System. Und ein Teil der Frustration auch von den jungen, gut gebildeten, resultiert daraus, dass sie sich als kompetent wahrnehmen, aber das politische System nicht die sozusagen Einflugschneisen bietet, damit sie sich effektiv einbringen können. Und daraus folgt, dass es keine allgemeine Tendenz mehr zu einer politisierten Kultur gibt, wie Sie es vielleicht aus den 70er- oder 80er-Jahren noch kannten, große soziale Bewegungen, die über eine längere Zeit hinweg aktiv waren.

von Billerbeck: "Die gut Gebildeten" war das Stichwort eben – Sie haben in einer Vorgängerstudie herausgefunden, dass eben vor allem jene Internetnutzerinnen besonders intensiv sich auch politisch beteiligen, die ein hohes Bildungsniveau haben. Das ist ja wie in der realen Welt.

Schaal: Es ist vielleicht sogar noch etwas schlimmer als in der realen Welt. Denn auch hier gilt, je höher das Bildungsniveau – nicht das Einkommen, weil die jungen Erwachsenen sind noch zu neu im Arbeitsmarkt, als dass sich das dort groß niederschlagen würde –, je höher das Bildungsniveau, desto eher beteiligen sie sich. Und das bedeutet auch, dass all die Aktivitäten, die man starten kann, Onlinepetitionen und Ähnliches, von einem ganz spezifischen Bildungssegment mit ganz spezifischen Interessen genutzt wird. Und diese Interessen sind bei Weitem nicht so breit gestreut wie zum Beispiel das Wählen.

Und daraus folgt für die Politik, dass man sich fragen muss: Wie gehen wir eigentlich auf diese Aktivitäten ein? Ein ganz großes Problem, denn auf der einen Seite haben Teile von diesen Aktivitäten natürlich eine große Publizität. Auf der anderen Seite sind sie aber auch sehr selektiv. Also mit anderen Worten, etwas pointiert formuliert, Lobby-Arbeit. Lobby-Arbeit ist aber nicht das, worauf eine repräsentative Demokratie, die auf das Gemeinwohl zielt, primär achten sollte. Was machen wir also damit? Das ist die Frage.

von Billerbeck: Aber das Angebot lautete doch, oder die Hoffnung, dass das Internet eben unabhängig vom Bildungsniveau, unabhängig vom sozialen Status, jeden erreichen kann, und auch überall.

Schaal: Ja. Eine Kollegin sprach ja von diesem Digital Divide, dass diejenigen, die weniger Einkommen haben, auch weniger die Ressourcen haben, um sich ins Internet zu bringen. Es geht aber auch darum, dass sie bestimmte politische Angebote weniger nutzen. Also die Tatsache, dass man zum Beispiel im Internet "Spiegel" liest, heißt ja noch lange nicht, dass man politisch aktiv ist. Und eher diejenigen, die ein höheres Bildungsniveau haben, tun auch das, was anspruchsvoll ist: selber Blogs verfassen, tatsächlich auch politisch, schriftlich zum Beispiel aktiv werden.

"Like-it-Buttons drücken ist nicht besonders anspruchsvoll"
Das, was die allermeisten tun, ist auf der einen Seite Like-it-Buttons drücken bei politischen Themen bei Facebook, das ist nicht besonders anspruchsvoll, und Online-Petitionen unterzeichnen. Und auch da stellt sich etwas anderes – nämlich viele von diesen Online-Petitionen zielen auf die internationale Politik, sind gar nicht national. Und man fragt sich, wer ist der Adressat davon? Mit anderen Worten, die deutsche Politik wird davon nicht wirklich berührt. Und auch das zeigt wieder, dass Online-Partizipation dort, wo sie tatsächlich genutzt wird konkret, auf die Politik viel weniger Einfluss hat als zum Beispiel Protestaktionen, die draußen vor der Tür stattfinden.

von Billerbeck: Dann fragt man sich aber, warum beteiligen sich junge Leute zwischen 22 und 35 an solchen Petitionen, an solchen Aktivitäten, wenn sie doch das Gefühl haben, die Politik wird nicht erreicht und sie erreichen damit auch wenig.

Schaal: Wir haben dafür einen Begriff geprägt, den nennen wir Symbolpartizipation. Was die Partizipationsstrukturen zwischen Online und Offline unterscheidet, ist die Erwartung, mit der man daran geht. Wenn man nach Offline-Partizipation fragt, also Wirkliche-Welt-Partizipation, dann geht es darum, dass man tatsächlich auch eine Reaktion der Politik erwartet. Wenn es um Online-Partizipation geht im Netz, dann sind die meisten auch damit zufrieden, dass sie ein Zeichen gesetzt haben, dass sie gezeigt haben: Wir interessieren uns für das Thema, aber wir glauben nicht daran, dass es tatsächlich die Politik erreichen wird. Und das ist im besten Sinne des Wortes Symbolpartizipation. Das kann man positiv sehen, dass sie vielleicht die Öffentlichkeit informieren wollen. Man kann es aber auch negativ sehen, dass man sagt, eigentlich soll politische Beteiligung auf Einflussnahme zielen, und das ist hier nicht gegeben.

von Billerbeck: Warum glauben denn diese Internetnutzer in diesem Alter aus Ihrer Studie nicht, dass sie etwas beeinflussen können mit dem, was sie tun?

Schaal: Das mag damit zu tun haben, dass man die politischen Parteien als nicht kompetent erachtet und vielleicht auch gar nicht glaubt, dass sie auf die Internet-Partizipationsformen richtig eingehen können. Ich erinnere an das Hashtag #Neuland, das offensichtlich selbst die Kanzlerin sich öffentlich so äußern kann, dass irgendwie die Netzgemeinde sich über sie lustig macht. Und die Frage, wie man dann auf differenzierte Formen von Beteiligung adäquat reagiert, wird offensichtlich mit einem Fragezeichen versehen.

von Billerbeck: Der Politikwissenschaftler Garry S. Schaal von der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität ist bei uns mit ersten Auswertungsergebnissen einer Studie, die die politische Beteiligung junger Erwachsener online und offline untersucht. Wenn ich diese Diagnosen höre, die Sie da gerade verkündet haben, fragt man sich, was bedeutet das denn nun für die Wahl, wenn sich eine so große Gruppe junger Menschen oder jüngerer Menschen nicht beteiligt fühlt?

Schaal: Klassischerweise würde man sagen, dass die Legitimation des politischen Systems nachlässt, weil sie typischerweise über die Wahlen gemessen wird. Ich glaube, dass wir das Potenzial des Internets noch gar nicht richtig nachvollzogen haben. Dass man tatsächlich auf eine andere Form von Demokratie kommen muss. Zum Beispiel Liquid Democracy, die Frage, ob man Repräsentationsstrukturen, also ob man seinen Repräsentanten für bestimmte Fragen zurückholen kann, ob man seinen eigenen Willen quasi direkt-demokratisch integrieren kann – das sind Möglichkeiten, wie man das Internet nutzen kann, und zwar auf eine sehr innovative, sehr demokratieförderliche Art und Weise. Das Problem ist bloß, es würde unser politisches System so gravierend, grundlegend verändern, weil Repräsentation gehört ja zu den Kernaufgaben unseres politischen Systems, dass ich mir schlecht vorstellen kann, dass es aus dem laufenden System heraus tatsächlich funktionieren kann, weil zu viele Interessenträger aus der Politik vermutlich dem Steine in den Weg legen würden.

"Weniger entfremdet fühlen von der Demokratie"
von Billerbeck: Ich stell mir das gerade vor. Man müsste also nicht nach jeder Bundestagswahl den Bundestag umbauen, um da die Stühle neu zu ordnen, weil, wenn wir von Liquid Democracy sprechen, dann ist das ja eine völlig andere Art politische Willensbildung. Was folgt denn daraus für unsere Demokratie?

Schaal: Es würde daraus folgen, dass man vielleicht den demokratischen Prozess wieder ernster nimmt, weil man nicht nur alle vier Jahre die Möglichkeit hat zu wählen, sondern das, was in den letzten Jahren als "Wutbürger" oder Ähnliches klassifiziert wurde, nämlich Menschen, die sich bei einem ganz bestimmten Thema sehr engagieren wollen, dass sie in diesen Themen sagen: Okay, wir bringen uns selber ein, wir holen das repräsentative Mandat zurück, wir wollen jetzt direkt partizipieren. Und in anderen Themen, in denen sie vielleicht weder so besonders engagiert sind oder sich vielleicht auch nicht kompetent fühlen, das ihren gewählten Vertretern überlassen.

Das würde bedeuten, dass man das politische Engagement, manchmal auch die Entrüstung in den politischen Prozess zurückbekommen kann, dass die Bürger sich vielleicht weniger entfremdet fühlen von der Demokratie, aber das würde, wie vorhin schon gesagt, einen massiven Umbau unseres institutionellen Systems bedeuten. Aber ich glaube, dass wir einen solchen Umbau benötigen, weil ansonsten sukzessive immer mehr Bürger sich von der Demokratie abkehren werden. Sie werden nicht zu offenen Feinden der Demokratie, daran glaube ich in Deutschland nicht, aber sie werden vermutlich weniger tun, um sie zu unterstützen oder im Zweifelsfall vielleicht zu verteidigen.

von Billerbeck: Das sagt der Politikwissenschaftler Gary Schaal von der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität, der in einer repräsentativen Studie die politische Beteiligung junger Erwachsener online und offline untersucht. Ich danke Ihnen.

Schaal: Herzlichen Dank.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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