"Ohne Europa könnten wir nicht leben"

Moderation Klaus Pokatzky · 02.10.2013
80 Millionen Europäer wurden im 20. Jahrhundert aus ihrer Heimat vertrieben. Jan M. Piskorski widmet sich dem Thema in seinem neuen Buch. Er sagt, ohne die Vertriebenen zu berücksichtigen, könne man über Europa nicht sprechen.
Klaus Pokatzky: Ein Lübecker Jude, der den Krieg in Ghettos und Lagern Ostmitteleuropas überlebt hatte, kehrte in seine Heimatstadt zurück. Als er sich bei der Polizei meldete, saß hinter dem Schalter derselbe Beamte, der ihm Jahre zuvor seine Wohnungsschlüssel abgenommen hatte, und fragte ihn: "Ja, Herr Katz, wo sind Sie die ganze Zeit gewesen? Sie haben uns nie über Ihre Abreise informiert." Das ist ein Schicksal aus dem Buch "Die Verjagden" von Jan M. Piskorski, das beschreibt einen von 60 Millionen Menschen, die im Zuge des Zweiten Weltkrieges verjagt, vertrieben, deportiert wurden. Doch auch davor gab es schon Massenvertreibungen, vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Balkan und danach, am Ende des Jahrhunderts, wieder auf dem Balkan: 80 Millionen Europäer wurden im 20. Jahrhundert verjagt. Im Studio begrüße ich nun Jan M. Piskorski, herzlich willkommen!

Jan M. Piskorski: Danke schön, ich grüße Sie auch!

Pokatzky: Sie sind Professor für vergleichende Geschichte Europas an der Universität Szczecin – Stettin. Sie sind dort 1956 geboren. Nach Szczecin ist Ihr Vater Czeslaw Piskorski, nach dem Krieg gegangen, er kam aus dem Konzentrationslager Mauthausen, er war selber ein Verjagter. Wie wichtig war diese Familiengeschichte für Sie, dass Sie das Buch geschrieben haben?

Piskorski: Also zweifelsohne – wie immer Familiengeschichten sind – die wichtigste am Anfang des Buches, wenn man zu Gedanken kommt, was man schreibt als Nächstes. Dann bin ich zum Schluss gekommen: Ja, jetzt sind die Verjagten, also Vertriebenen an der Reihe. Und weil ich in meiner Familie ziemlich viele solche Leute hatte, hat das mir natürlich viel erleichtert. Ganz am Anfang des Buches steht auch eine Tante aus Wilna, die dann nach dem Krieg nach Schlesien …

Pokatzky: Also aus dem Baltikum nach Schlesien …

Piskorski: Ja, ja, eben, eben. Also in der Familie gibt es ziemlich viele Leute, die man als Verjagte bezeichnen kann. In Deutschland und Polen ist das eigentlich normal, dass man Verjagte in der Familie hat. Deswegen dachte ich immer – und das war der Haupt-point, also der springende point des Buches: Ich wollte ein wissenschaftliches Buch schreiben, das aber sehr gut zu lesen ist und das die Zahlen und das Große mit dem Kleinen verbindet, also die individuellen Geschichten, wie diese Geschichte von Herrn Katz, darstellt – die für uns heute eigentlich unvorstellbar ist, aber damals möglich war.

Pokatzky: Es gibt ja eine Fülle von Literatur zum Thema Vertreibung. Sie legen ganz großen Wert darauf, dass, wie bei den meisten anderen Publikationen, die sich ja fast ausschließlich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, dass die europäische Vertreibungsgeschichte viel früher einsetzt, lange vor dem Ersten Weltkrieg, auf dem Balkan. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Piskorski: Weil man musste das 20. Jahrhundert als Ganzes sehen, und die Probleme, die wir dann im Zweiten Weltkrieg so gut sehen oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, also in dieser schrecklichen Dekade von 1939 bis 1948 etwa, … Aber die Probleme entstanden Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20., während der Nationalisierung der Bürgerrechte. Das ist das Wichtigste im 20. Jahrhundert. Es entstanden gewisse Gruppen, die der Staat einfach nicht haben wollte. Und auf diese Weise konnte man diese Staatenlosen haben, die man aus dem eigenen Staat vertrieben hatte, und niemand anders wollte sie woanders.

Pokatzky: "Die Europäer vergessen allzu leicht, dass die Erfahrung erzwungener Flucht im großen Umfang etwas ursprünglich Europäisches ist", schreiben Sie. Warum? Woher kommt das? Ist das der Nationalismus, sind das die industrialisierten Massenkriege, dass das so ein europäisches Phänomen ist?

Piskorski: Ja, das ist die Dynamik des Krieges natürlich. Das 20. Jahrhundert, besonders die erste Hälfte, das ist die Zeit der großen europäischen Kriege. Und wenn ich zum Beispiel bei den Indern in Kalkutta Vorträge habe, dann wundern sie sich immer: Europa so zerstört, nur Vertriebene, Vertriebene, das ist unmöglich. Weil sie wissen das nicht. Sie verbinden Europa mit Reichtum eigentlich. Und wir verbinden das noch immer mit Vertriebenen, Verjagten. Reichtum kam später, als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Ersten auch.

Pokatzky: Bei 80 Millionen Verjagten in Europa sprechen Sie von einer "vertriebenen Gemeinschaft". Waren die Vertreibungen in irgendeiner Weise identitätsstiftend für den Europäer?

Piskorski: Ich denke ja. Ohne Vertriebene zu berücksichtigen in Europa, kann man über Europa nicht sprechen, und ohne diese zwei großen Kriege hätten wir vielleicht auch die Idee des gemeinsamen Europa nicht bekommen.

Pokatzky: "Migrationen, selbst Zwangsmigrationen", schreiben Sie, "sind das Salz in der Geschichtssuppe. Sie lösen Dynamik aus und dadurch gesellschaftliche Veränderung." Und für Deutschland schreiben Sie: "Neue Gesellschaften entstanden", also nach dem Zweiten Weltkrieg, "es fielen gesellschaftliche, kulturelle, vor allem religiöse Barrieren." Das klingt hart. Das klingt so, als hätten Vertreibungen tatsächlich am Ende auch positive Effekte.

Piskorski: Das ist so. Das ist nicht meine These, das ist die These von Martin Broszat, und sie ist allgemein ostmitteleuropäisch oder mitteleuropäisch …

Pokatzky: Also dem Historiker Martin Broszat.

Piskorski: Ja, der Historiker, der große deutsche Historiker, der auch über Polen forschte. Besonders Deutschland und Polen haben sich wegen des Zweiten Weltkriegs total verändert, und man kann … Kriege, obwohl sie schrecklich sind, beginnen manchmal etwas anderes. Und Kriege haben die ganze Struktur von Deutschland und Polen zerstört. Also ein Drittel der Polen wurde übersiedelt, es entstand ein total neuer Staat und mit neuer gesellschaftlicher Struktur – in Deutschland ist das Gleiche zweifelsohne. Ob wir das als gut oder als schlecht bezeichnen, das das ist ein anderes Ding. Jedenfalls: Kriege bedeuten immer großen change.

Pokatzky: Großen Wandel.

Piskorski: Großen Wandel, ja.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur der Historiker Jan M. Piskorski, die europäische Vertreibungsgeschichte ist unser Thema. Sie, Herr Piskorski, haben von 1976 bis 1979 in Posen studiert, unter anderem Geschichte. Wie ist denn damals das Thema in der polnischen Geschichtswissenschaft behandelt worden?

Piskorski: Na, total anders als heute. Man sprach vor allem über solche Dinge nicht besonders viel, weil sie waren in gewissem Sinne verboten, besonders, wenn es um die Polen aus dem Osten sprechen wollte, das war Thema bis 89 oder jedenfalls bis Solidarnoœæ-Zeit, also bis 1980, tabu. Das war so wie in Ostdeutschland, wo auch … Die Ossis, damaligen Ossis, konnten über ihre Umsiedlungen nicht sprechen.

Pokatzky: Wir haben nun seit Jahren heftige Debatten über ein Zentrum gegen Vertreibung, ich sage nur als Namen die CDU-Politikerin Erika Steinbach. Sie haben vor fast zehn Jahren in der "Frankfurter Rundschau" geschrieben, dass sich diese Debatte über das Zentrum gegen Vertreibung auf längere Sicht als nützlich erweisen könnte: "Es wurde eine schmerzhafte Diskussion eröffnet, die beide Seiten dazu zwingt, die volle Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen." Jetzt, fast zehn Jahre, nachdem Sie diesen Artikel geschrieben haben – ist das auch geschehen?

Piskorski: Ich denke, ja, obwohl noch nicht geschehen, das ist im Werdegang, sagen wir. Also Frau Steinbach – paradoxerweise – hat einen Weg geöffnet, und die Deutschen und Polen müssen die Geschichte noch einmal nachdenken. Ob das einfach ist, das ist ein anderes Ding.

Pokatzky: Aber Sie sind positiv gestimmt?

Piskorski: Ich bin positiv gestimmt, obwohl, natürlich muss man immer sagen: Meine Buchvorstellung sollte in Berlin sein, am 14. Oktober. Sie wurde jetzt woanders umgesiedelt, sagen wir, weil die Stiftung für Flucht, Vertreibung und Versöhnung hat mein Buch abgelehnt. Das zeigt, dass es gewisse Strömungen noch immer gibt, auch in der Stiftung. Manche sind dafür, weswegen die Einladung kam, und manche sind dagegen, deswegen: Am Ende hat Herr Kittel das abgesagt.

Pokatzky: Wer ist Herr Kittel?

Piskorski: Herr Kittel ist Direktor von der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung, na ja, nationalkonservativer – würde ich sagen – Historiker, ja, der vielleicht etwas … dieses Buch zu europäisch vielleicht gefunden hatte.

Pokatzky: Welche Erfahrungen haben Sie mit deutschen Historikern gemacht?

Piskorski: Ausgezeichnete, und ich bin sehr oft in Deutschland und ich verstehe mich mit den deutschen Historikern sehr gut. Aber ich würde vor allem sagen, dass solche Kategorien wie "die deutschen Historiker" oder "die polnischen Historiker" gibt es nicht mehr in dem Sinne, dass … "Die Deutschen" und "die Polen" gibt es auch nicht mehr – es gibt hier und da andere Leute, verschiedene Leute. Und das Buch wurde auch in Polen von nationalkonservativen Kreisen nicht gesehen, also verschwiegen, ja. Und das Gleiche haben wir jetzt in Deutschland. Obwohl das Buch ausgezeichnet hier angenommen ist: Trotzdem gibt es Leute, die einfach dagegen sind. Und man muss das verstehen. Das zeigt nur, dass die Zeit eben "der Polen" und "der Deutschen" vorbei ist, und das ist gut.

Pokatzky: Weil die Zeit Europas gekommen ist?

Piskorski: Ich denke ja. Wir klagen sehr viel über Europa, aber ohne Europa könnten wir nicht leben.

Pokatzky: Danke, Jan M. Piskorski. Ihr Buch "Die Verjagten: Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts" ist im Siedler-Verlag erschienen, mit 432 Seiten, und kostet 24,99 Euro.

Piskorski: Ich danke Ihnen!

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