Offene Tafel

Das koschere Herzensrestaurant

Von Robert B. Fishman · 03.10.2014
Jenseits von Luxusvillen, schicken Boulevards und Yachten gibt es in Nizza auch billige Hochhäuser, marode Altbauten und Armut. Jeder zehnte jüdische Bewohner Nizzas lebt von weniger als 750 Euro im Monat. Um die kümmert sich Michel Grosz.
Totengebet für einen Gast, der zum Freund geworden ist. Die koschere offene Tafel hinter dem Hauptbahnhof in Nizza bietet mehr als eine warme Mahlzeit: Herzenswärme. Ehrenamtliche servieren den Gästen an freundlich bunt gedeckten Tischen Vorspeise, Hauptgericht und Nachtisch. Dazu gibt es Wasser und Wein, zum Abschluss wahlweise Kaffee oder Tee mit Minze. An den frisch gestrichenen Wänden hängen Bilder.
"Wir wollten keine typische Armenküche machen", sagt das Gründer-Paar Marga und Michel Grosz. Es geht auch um die Würde der Gäste. Weil die Armut oft die Falschen, die Armen, beschämt, verkauft Michel Grosz die Essensmarken diskret in einer Ecke am Eingang. Jeder zahlt, was er kann. Zwei Euro für die Armen, acht Euro Selbstkostenpreis und wer mehr hat, gibt gerne auch mehr. Dafür bekommen die Mittellosen ihre Essensmarke oft kostenlos. Am Tisch hat jeder das gleiche Ticket - für Marga und Michel Grosz eine Frage des Respekts vor der Not der Menschen.
Stella kommt zwei Mal die Woche. Ihr Mann war nach der Pleite seiner Firma arbeitslos. Jetzt hat er wieder einen Job gefunden – für rund 1100 Euro im Monat. Für die beiden Kinder bezieht die Familie je 64 Euro Kindergeld. Stella geht Putzen und gibt Hebräisch-Kurse. Zum Leben reicht das Einkommen trotzdem nicht. Schon die Fahrkarten für die Söhne kosten jeden Monat 40 Euro, die Miete für die Zwei-Zimmer-Sozialwohnung 800. Zuhause kann sich Stella kein Mittagessen leisten.
"Mittags würde ich nichts essen. Ich weiß nicht, was ich ohne das Lokal hier machen würde. Von einem Lebensmittelladen, einer épicerie du cœur, bekommen wir Lebensmittel, Milch, Konserven, Obst und Gemüse. Wenn ich nichts esse, ist es nicht so schlimm. Hier gibt man mir auch etwas für meine Kinder, da wird jede Familie begleitet. Die Arbeit ist bewundernswert."
Das Geld reicht nicht
Mitten in Europa können sich immer mehr Menschen nicht mehr satt essen. Das Geld reicht nicht. Restaurantgründer- und Betreiber Michel Grosz kennt viele Geschichten wie die von Rosi: Mit ihren fünf Kindern lebt die 37-Jährige in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Ihr Mann hat sie verlassen und zahlt keinen Unterhalt. Vom Sozialamt bekommt sie 287 Euro. Wenn die Kinder in der Schule sind, geht Rosi putzen oder hilft alten Leuten gegen ein wenig Geld beim Einkaufen. Oft zahlen ihre Auftraggeber nur fünf Euro die Stunde oder auch gar nichts. Einklagen kann sie ihren Lohn nicht: Schwarzarbeit. Damit wenigstens die Kinder satt werden, isst Rosi oft nichts. Sie sieht blass aus. Den Zahnarzt für ihre kaputten Zähne kann sie sich nicht leisten.
Michel Grosz hat einen Zahnarzt gefunden, der den Bedürftigen kostenlos die Zähne repariert. Drei Optiker fertigen ehrenamtlich Brillen.
"Hauptberuflicher Schnorrer", nennt sich Michel Grosz lachend. Früher war er erst Bauarbeiter, dann studierter Betriebswirt, Manager und Unternehmensberater. Er hat gut verdient, eine auskömmliche Rente. Warum legt er sich nicht wie viele andere gut situierte Rentner an seinen Swimming Pool und genießt das Leben?
"Ich sage es in einem Wort: Weil ich Jude bin. Ich habe auch ein Schwimmbad ...(Lachen). Bin aber nie drin (Lachen) ... Jeder Mensch ist dafür geschaffen, etwas aus seinem Leben zu machen. Wir haben alle ein Neshamá, eine Seele, und jeder hat ein besonderes Neshamá mit einem eigenen Ziel, das man vielleicht in seinem vorherigen Leben nicht erreicht hat. Wenn jemand stirbt, bevor er seine Ziele erreicht, kommt seine Seele in einem anderen Menschen zurück auf die Welt, um diese Aufgabe abzuschließen."
Michel, heute 70, hat die koschere Table Ouverte, die offene Tafel, vor 14 Jahren gegründet. Allein im vergangenen Jahr hat sie 15.000 koschere Mahlzeiten verteilt.
"Wenn man sich bei dem, was man macht, gut fühlt, hat man seine wahre Aufgabe gefunden. Man fühlt sich ... Schalom ... Schalom auf Hebräisch kommt von Schalem. Schalem heißt, dass man sich vollständig fühlt."
In seinem Lokal strahlt er Ruhe aus, wirkt zufrieden.
"Materielles macht nicht glücklich"
"Nur Oberflächliches, Materielles macht nicht glücklich. Man kann zwei Steaks, drei Steaks am Tag essen, man schafft keine zehn (Lachen). Es gibt also eine Grenze. Wenn man eine Million hat, möchte man fünf haben, wenn man fünf hat, reicht es ... nein, man will 25 und so weiter. Also geht es darum zu wissen, was das Ziel des Lebens sein kann. Jeder kann dazu beitragen, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ich bin zum Beispiel sehr unternehmungslustig, ich mag es, Dinge zu erschaffen, ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Um Geld aufzutreiben, muss man wirklich viel hin und her rennen und, .... aber ... es ist nicht schlimm, weil man den Menschen Gutes tut, Mitzvot."
Der Glaube gibt ihm die Kraft für sein Engagement. Sein Hauptgesellschafter, sagt er lachend, ist "der große Boss da oben" und zeigt mit dem Finger zur Decke. Der finde immer eine Lösung.
Die meisten ehrenamtlichen Helfer der offenen koscheren Tafel in Nizza sind Rentner, aber auch ein Pilot ist dabei, der im Liniendienst fliegt.
"Jeder gibt, was er kann. Unsere Gäste sind natürlich in ihren schwierigen Lebenssituationen empfindsam. Sie spüren genau, mit welcher Haltung wir ihnen begegnen. Es sind Menschen mit wunden Seelen, die gelitten haben. Die Ehrenamtlichen konkurrieren nicht gegeneinander, wir werden ja nicht bezahlt, so entstehen offene Freundschaften."
Michel Grosz plant schon sein nächstes großes Projekt.
"Um hier in Nizza eine Wohnung zu bekommen, muss man nachweisen, dass man monatlich das dreifache der Miete verdient. Wenn Du 600 Euro im Monat hast und ein Ein-Zimmer-Appartment schon in einer schlechten Gegend 400 kostet, hast Du keine Chance. Kaum jemand hier verdient 1200 Euro im Monat. Dann verlangen die Vermieter zusätzlich noch eine Mietbürgschaft Und wenn ein Vermieter sieht, dass du 65, 70, 75 Jahre alt bist, brauchst du gar nicht erst eine Wohnung zu suchen. Weil sie sagen, der ist zu alt, wenn er nicht bezahlt, werden wir ihn nicht mehr los.
Meine Idee ist ungefähr folgende: Ich finde reiche Leute, die für arme Wohnungssuchende bürgen. Wir haben hier 400, 500 Leute, die regelmäßig zum Essen kommen und noch mal so viele Arme, die da draußen umherirren. Ich rechne aus, wie viele Bürgschaften wir brauchen. Das Ausfallrisiko liegt bei 15.000 bis 20.000 Euro im Jahr. Also will ich mit Spendern und Unterstützern ein Unternehmen gründen, das Wohnungen mietet und an Bedürftige untervermietet. Dessen Gesellschafter tragen das Risiko von Mietausfällen gemeinsam.
Kol Hakavot, alle Achtung und Bon Courage, viel Erfolg!