Ökostadt in XXL

Von Ruth Kirchner · 04.12.2012
Die Urbanisierung Chinas vollzieht sich in atemberaubendem Tempo. Mittlerweile gibt es dort ein halbes Dutzend Großstädte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern. Vor den Toren Tianjins wird gerade eine Ökostadt gebaut.
Noch ist längst nicht alles fertig in der neuen Großsiedlung, die derzeit rund 120 Kilometer südöstlich von Peking entsteht. Gelbe Baukräne schwenken Lasten. Bauarbeiter werkeln an den acht- bis 15-stöckigen Wohnblocks. Doch in wenigen Jahren sollen in der neuen Großsiedlung 350.000 Menschen leben, in Deutschland wäre das bereits eine Großstadt.

In China ist so eine Siedlung oft nicht mehr als ein Vorort. In diesem Fall eine Großsiedlung vor den Toren der Zehn-Millionen-Metropole Tianjin.

Auf den ersten Blick sieht sie aus wie jede andere moderne Stadt in China auch: Wohnblocks, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen, breite Straßen, gepflegte Blumenbeete. Trotzdem ist alles anders. Vor fünf Jahren war das Areal - halb so groß wie Manhattan - noch eine verlassene Industriebrache. Heute stehen hier schmucke braune und gelbe Wohnblocks, es gibt überall Solarpanele, auf den Dächern solare Warmwasseraufbereiter und Windräder. Hier entsteht etwas Besonderes: die Öko-City Tianjin. Geplant als größte Ökostadt der Welt, wie Liu Wenchuan, einer der Sprecher des Projekts erläutert.

"Die Ökostadt soll Modellfunktion haben für chinesische und internationale Städte. Denn mit der schnellen Urbanisierung stehen die Städte vor riesigen Problemen: dem Verkehr, der Wasserversorgung, der Luftverschmutzung, dem Energieverbrauch. Mit der Ökostadt wollen wir diese Probleme lösen. Es ist der Versuch, hier Erfahrungen zu sammeln und Lektionen für andere zu lernen."

An der Ökostadt Tianjin wird bereits seit vier Jahren gebaut. Sie hat sich viel vorgenommen: 20 Prozent der Energie soll aus erneuerbaren Quellen kommen, aus Sonne, Wind und Geothermie - dafür gibt es ein eigenes Kleinkraftwerk. Die CO2-Emissionen sollen damit deutlich gedrückt werden. Es wird ein intelligentes, unterirdisches Müllsystem geben mit Tonnen, die sich selbst leeren. Wasser wird wieder aufbereitet. Die Fenster der Häuser sind teilweise dreifach verglast, die Wohnungen gut isoliert - in China keine Selbstverständlichkeit. Und: Man will die neuen Bewohner von den grünen Ideen überzeugen - auch das eher ungewöhnlich im Reich der Mitte.

"Die Bewohner über das Konzept der Siedlung aufzuklären, ist uns ein großes Anliegen. Dafür haben wir ein eigenes Büro eingerichtet. Bevor die Leute einziehen, bringen wir ihnen bei, wie man Wasser, Energie und damit Geld sparen kann. Wir gehen auch zu den Leuten nach Hause, um einzelne Sparmaßnahmen zu demonstrieren."

Einfach ist das nicht, denn grüne Ideen setzen sich in China erst langsam durch. Viele Menschen denken bei "öko" zunächst an sauber und rein und nicht an Umweltschutz. Doch anders als viele ähnliche Projekte verlangt die Ökocity ihren Bewohner nicht allzu viel ab. Autofahren soll zwar nicht gefördert werden, ist aber auch nicht verpönt. Solange die Menschen bereit sind, ihren Müll zu trennen und ab und zu den Bus zu nehmen, tragen sie bereits ihr Scherflein bei zur grünen Zukunft.

Dafür investiert der Staat gewaltige Summen - rund sieben Milliarden Euro, sagt Liu Wenchuan. Das Engagement kommt nicht von ungefähr. Mit der Ökostadt wollen die beiden Hauptinvestoren, der Stadtstaat Singapur und die chinesische Regierung, demonstrieren, dass grünes Bauen auch im dicht besiedelten Asien möglich ist - gerade auch in China, wo in den nächsten Jahren rund 350 Millionen Menschen vom Land in die Städte drängen werden - das ist mehr als die Gesamtbevölkerung der USA. Jetzt sind die negativen Folgen der rapiden Verstädterung der letzten Jahrzehnte überall zu spüren.

Zum Beispiel hier - an der dritten Ringstraße in Peking. Jeden Morgen quälen sich zehntausende von Autos über die sechsspurige Stadtautobahn ins Zentrum. Täglich sind in Peking fünf Millionen Autos unterwegs - doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren. Und jeden Monat kommen 20.000 Neuzulassungen hinzu. Viele Pekinger sind hochgradig genervt

"Es gibt einfach zu viele Autos und die Lage auf den Straßen ist übel. Wir brauchen endlich Lösungen für den Verkehr."

Aber der Verkehr ist nur eines von vielen Problemen, mit denen die Mega-Metropole zu kämpfen hat. Der Smog ist ein anderes.

An diesem Morgen hängt die dreckige Luft so dicht über der Stadt, dass die Sonne nur als schmutzig-gelber Fleck am Himmel auszumachen ist. Die schlechte Luft beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität - sie könnte nach Angaben chinesische Experten neben dem Rauchen zu einem der größten Gesundheitsrisiken werden.

In der Pekinger U-Bahn ist es an diesem Morgen so voll, dass an vielen Stationen die Menschenmassen von uniformierten Angestellten mit weißen Handschuhen in die Züge gedrückt werden, bis kein Millimeter Platz mehr ist.

Und trotzdem wächst die Stadt weiter und weiter. Vor rund 20 Jahren hatte Peking zehn Millionen Einwohner. Heute sind es doppelt so viele: 20 Millionen Menschen, die Büros und Jobs brauchen, Wohnungen, Schulen, Geschäfte und Krankenhäuser; und Luft zum Atmen, Raum zum Leben. Daher frisst sich die Stadt immer weiter ins Umland mit immer neuen gesichtslosen Hochhaussiedlungen. Stadtplanerin Qin Hong Ling von der Pekinger Universität für Ingenieurswissenschaften und Architektur beobachtet die Entwicklung mit Sorgen.

"Die Stadt wächst und wächst. Wir wissen heute gar nicht mehr, wo ihre Grenzen sind. Neben diesem Problem der Expansion sehen wir wachsende Konflikte mit dem fragilen Ökosystem."

Zum Beispiel Wasser. Peking verbraucht seit Jahren viel zu viel Wasser. Nordchina ist eine trockene Region. Die Ausläufer der Wüste Gobi reichen bis auf rund 100 Kilometer an Peking heran. Wasser ist daher ein kostbares Gut. Doch mit der Expansion der Stadt werden die Reserven immer weniger. Der Grundwasserspiegel in und um Peking ist in den letzten Jahrzehnten bereits dramatisch gesunken.

Oder Energie: Peking braucht Unmengen an Strom, der von den Kohlekraftwerken im Umland geliefert wird. Deren Emissionen wiederum tragen zum Smog in Peking und zum Klimawandel bei.

Oder das Problem des Denkmalschutzes. Wie hier im Zentrum werden immer mehr der alten Stadtviertel mit ihren einstöckigen Wohnhäusern abgerissen, um neuen Wolkenkratzern Platz zu machen. Außer einigen wenigen Altstadtvierteln in der Nähe der Verbotenen Stadt oder rund um den historischen Glockenturm ist vom alten Peking heute nicht mehr viel übrig. Die Stadt sieht zunehmend genau so gesichtslos aus wie andere Großstädte in China auch.

"Peking ist berühmt für sein Jahrhunderte altes kulturelles und historisches Erbe. Doch heute verliert die Stadt ihren individuellen Charakter. In der Innenstadt sind heute nur noch weniger als sechs Prozent des alten kulturellen Erbes erhalten."

Ansonsten Beton so weit das Auge reicht. Wenn man auf einer der Fußgänger-Brücken über den Stadtautobahnen steht und an einem klaren Tag über die Stadt blickt, reichen die Hochhäuser bis zum Horizont.

Das unterscheidet Peking beispielsweise von amerikanischen Großstädten mit ihren Downtown-Skylines und der ansonsten flachen Bebauung. Ein Land wie China könnte sich so eine Stadtplanung gar nicht leisten. Für die vielen Menschen, die in die Mega-Metropolen drängen, gibt es nicht genügend Platz für flache Wohnblocks oder gar Reihenhäuschen. Daher sucht die Stadt nach anderen Zukunftsmodellen.

Im Stadtentwicklungsmuseum gleich süd-östlich vom Platz des Himmlischen Friedens etwa. Im Kinosaal bekommen Besucher 3D-Brillen in die Hand gedrückt, um den atemberaubenden Modernisierungssprung der letzten Jahrzehnte im Zeitraffer nachzuvollziehen und einen Blick in die Zukunft zu werfen.

Der Museumsfilm zeigt eine Stadt, die grün ist, sauber und super-modern. Eine makellos schöne Metropole unter strahlend blauem Himmel. Das ist natürlich Zukunftsmusik, zeigt aber wohin die Reise gehen soll. Schon jetzt arbeitet Peking mit Hochdruck am Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Das U-Bahn-Netz, das vor den olympischen Spielen 2008 gerade mal vier Linien umfasste, ist in rasantem Tempo erweitert worden. Heute gibt es 13 Linien. Bis zum Jahresende werden vier weitere eröffnet. Das U-Bahnnetz wird dann rund 440 Kilometer lang sein, sagt Zhang Wenqiang vom Pekinger Verkehrsbüro.

"Wenn die vier neuen Linien fertig sind, ist damit der Aufbau des U-Bahnnetzes im städtischen Bereich weitgehend beendet. Aber in den nächsten Jahren werden wir weitere Linien bauen und bestehende Linien verlängern. Bis 2020 soll das U-Bahnnetz insgesamt 660 Kilometer lang sein."

Dann sollen täglich 12 Millionen Menschen die U-Bahn benutzen. Das Grundproblem der Stadt ist damit aber nicht gelöst. Nach wie vor expandiert Peking in quasi konzentrischen Kreisen - wie ein Pfannkuchen, der immer größer wird. Die Stadtautobahnen legen sich in Ringen um die Metropole. Waren es vor einigen Jahren erst drei, dann vier, sind es heute bereits sechs. Immer noch konzentriert sich alles auf das Zentrum - die Fläche innerhalb des zweiten und dritten Autobahnrings. Dort sind die meisten Büros, die Behörden, die Einkaufszentren, die Krankenhäuser. Eigentlich hatten die Stadtväter etwas anderes geplant, sagt Qin Hong Ling.

"Vor einigen Jahren gab es diese Idee der Satelliten-Städte. Das ist eigentlich eine vernünftige Idee. Damit lässt der Druck aufs Zentrum nach, das verbessert die Lebensbedingungen und hilft bei der Entwicklung der Umgebung."

Stadtplaner wie Qin Hong Ling träumen von einer Stadt, in der trotz der vielen Menschen die Wege kurz sind und die Ressourcen nicht verschwendet werden, in der Wohnen und Arbeiten dicht beieinander liegen. Qins eigenes Leben ist davon weiter entfernt denn je. Von ihrer Wohnung im Norden Pekings bis zum Hauptcampus ihrer Universität in Daxing im Süden ist sie jeden Morgen zwei Stunden lang unterwegs. Hin und zurück legt sie jeden Tag weit über einhundert Kilometer zurück - im Auto im Dauerstau, weil die Anbindung an die U-Bahn fehlt.

"Viele meiner Kollegen träumen davon, früh in Rente zu gehen und dann irgendwo in eine kleinere Stadt zu ziehen. Peking ist nicht mehr lebenswert."

In der Ökostadt Tianjin soll es solche Probleme nicht geben. Die Großsiedlung will mit über 20 messbaren Indikatoren sicherstellen, dass die urbanen Probleme dort anders gelöst werden. Die Idee: rund die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung soll in der Ökostadt selbst auch Jobs finden. Dazu fördert man die Ansiedlung von High-Tech-Unternehmen in der unmittelbaren Umgebung.

Doch für die meisten Menschen zählt zunächst etwas anderes, nämlich der Preis. Weil die Wohnungen in der Ökostadt staatlich gefördert werden, sind sie teilweise billiger als anderswo in Tianjin. Das zieht Interessenten an. Die ersten 100 Familien sind im Frühjahr eingezogen. Viele weitere sollen folgen.

Bei der Besichtigung der Musterwohnungen müssen die Besucher blaue Plastiktüten über die Schuhe ziehen. Unter den Interessenten ist auch Wang Changhai. Der 25-Jährige sucht eine Wohnung für sich und seine Eltern.

"Alles ist neu. In der Gegend wird es sich gut leben lassen, auch wenn ich später mal ein Kind habe. Das Umweltschutz-Konzept ist gut. Es gibt viel Grün hier. Sie benutzen saubere Energie. Aber der Hauptgrund ist für mich der Preis. Die Wohnungen hier sind noch erschwinglich."

Noch steckt in der Ökostadt vieles in den Anfängen. Die geplante Anbindung an das 40 Kilometer entfernte Stadtzentrum Tianjins über einen eigenen Vorortzug steht noch aus. Wang Changhai müsste sich zunächst ein Auto kaufen, um überhaupt zur Arbeit kommen zu können. So war das eigentlich nicht gedacht. Auch die Planung der Ökostadt wirft viele Fragen auf. Die breiten Straßen laden zum Autofahren ein, nicht zum Radfahren. Die einzelnen Wohnblocks sind riesig und die Wege daher lang. Die Infrastruktur - Schulen, Geschäfte, Restaurants - fehlt weitgehend noch. Die Stadt ist noch fast leer. Und wie grün sie wirklich sein wird, lasse sich noch gar nicht sagen, kritisiert die Amerikanerin Cecilia Springer, die das Projekt im Rahmen einer Forschungsarbeit untersucht hat.

"Es ist total schwer, Informationen und Daten über die Ökostadt zu bekommen. Obwohl sich die Stadt sehr konkrete Ziele gesetzt hat, ist es unmöglich, diese mit dem tatsächlichen Verbrauch abzugleichen. Ein typisch chinesischer Mangel an Transparenz, der eine Beurteilung schwierig macht."

Trotzdem sehen Stadtplaner in Tianjin zumindest den Versuch, funktionierende Modelle für Chinas urbane Zukunft zu entwickeln.