Ökonomie der Unersättlichkeit

Rezensiert von Ulrich Baron · 09.06.2013
Der britische Ökonom Robert Skidelsky und sein Philosophie lehrender Sohn Edward fordern in ihrem gemeinsamen Buch eine Abkehr vom Wachstumswahn. Um die endlose Gier zu besiegen, helfe ein sicheres Grundeinkommen - und die Einschränkung der Werbung.
Wie viel ist genug? Diese Leitfrage geht auf eine Prognose zurück, die John Maynard Keynes im Jahr 1930 formuliert hat. Während manche Zeitgenossen angesichts der Weltwirtschaftskrise meinten, des Kapitalismus letzte Stunde habe geschlagen, sah Keynes dessen Glanzzeit erst noch kommen. Die Produktivitätssteigerungen würden dafür sorgen, dass die Menschen in 100 Jahren höchstens 15 Stunden pro Woche arbeiten müssen. Robert und Edward Skidelsky zitieren diese Voraussage für das Jahr 2030:

"Dann, so schrieb Keynes, werde der Mensch 'zum ersten Mal seit seiner Erschaffung vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein: wie er seine Freiheit von drückenden, wirtschaftlichen Sorgen nutzt, wie er seine Muße ausfüllt, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann'."

Keynes rosige Wirtschaftsprognose postulierte zugleich, dass es ein gutes Leben jenseits des tradierten Berufslebens geben könne. Das erscheint aus heutiger Sicht als gewagt. Die Frage aber, warum Keynes Prognose nicht eingetroffen ist, führt zum Kern unserer gegenwärtigen Krise und liefert den Skidelskys Ansätze dazu, wie man "vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens" kommen könnte.

"Keynes' Voraussage, unter diesen Umständen würde die Arbeitszeit entsprechend dem Produktivitätswachstum zurückgehen, hing von der scheinbar selbstverständlichen Annahme ab, Einkommen hätten einen abnehmenden Grenznutzen – jeder weitere Zuwachs beim Einkommen bietet ein bisschen weniger Befriedigung als der vorangehende -, sodass Gesellschaften, wenn sie immer reicher werden, mehr Freizeit zusätzlichem Einkommen vorziehen würden."

Der Kapitalismus schafft ständig neue Begierden
Abgesehen davon, dass es ein wenig naiv war zu glauben, der Produktivitätszuwachs würde vor allem den Produzenten und Arbeitern zugutekommen, hat Keynes nicht vorausgesehen, dass die wachsende Produktivität neue Waren wie elektrische Haushaltsgeräte, Kommunikations- und Unterhaltungselektronik hervorbringen würde, die heute so selbstverständlich wie unentbehrlich erscheinen. Zudem habe er unterschätzt, in welchem Ausmaß der Kapitalismus nicht nur Bedürfnisse durch Begierden ersetzen, sondern auch ständig neue Begierden entfachen würde:

"Er verstand nicht, dass der Kapitalismus eine neue Dynamik der Begierdeerzeugung in Gang setzte, die die traditionellen, durch Brauchtum und gesunden Menschenverstand definierten Beschränkungen hinwegfegen würde."

Motor solcher Begierden ist nicht nur die Werbung, sondern auch der bloße Vergleich. Wenn es dem Nachbarn sichtbar besser geht, ist einem das eigene Haus oder Auto nicht mehr gut genug. Das erklärt auch, warum selbst die Reichsten einander noch zu übertrumpfen suchen und deshalb nie genug bekommen können. Und angesichts dessen kommt in der ansonsten um Differenzierung und Analyse bemühten Darstellung der Skidelskys bisweilen geradezu klassenkämpferischer Furor auf. Die Finanzindustrie sei ein "Motor der Unersättlichkeit" und Kapitalismus sei organisierter Raub:

"Die angloamerikanische Version des individualistischen Kapitalismus wird vor allem zum Nutzen einer habgierigen Plutokratie am Leben erhalten, deren Mitglieder im ganz großen Stil abkassieren und die ihre Raubzüge in der Sprache der Freiheit und Globalisierung verbrämen."

Statt aber die Räuber dingfest zu machen, konzentrieren sich die Autoren auf die Frage, "was zu einem guten Leben gehört". Dazu greifen sie weit in die Philosophiegeschichte zurück. Der Kapitalismus und seine Ideologie des grenzenlosen Wachstums habe uns zwar Wohlstand beschert ...

"…doch zugleich den größten Vorzug dieses Wohlstandes weggenommen: das Bewusstsein, genug zu haben."

Gerade um dieses Bewusstsein aber sei es den Denkern der Antike und Vormoderne gegangen, denen die Vorstellung eines unbegrenzten Wachstums fremd gewesen sei. Aristoteles, Epikur und Solon, Konfuzianismus und Taoismus stehen dann auch Pate, wenn die Skidelskys ihre Antwort auf die Frage nach dem guten Leben geben und dazu eine Reihe von unentbehrlichen Basisgütern definieren.

Cover: "Wie viel ist genug?" von Robert & Edward Skidelsky
Cover: "Wie viel ist genug?" von Robert & Edward Skidelsky© Verlag Antje Kunstmann
Plädoyer für ein sicheres Grundeinkommen - und weniger Werbung
Dazu zählen sie Gesundheit, Sicherheit, Respekt, Persönlichkeit, Harmonie mit der Natur, Freundschaft und Muße. Das sind Güter, die man sich nach allgemeinem Verständnis nicht nach Belieben und für Geld kaufen kann. Doch um sie entwickeln zu können, bedürfen wir einer funktionierenden Ökonomie. Die Mittel daraus sind aber sehr ungleichmäßig verteilt, und so plädieren die Skidelskys nicht nur für die Besteuerung von Konsum, Luxusgütern und Finanzindustrie, sondern auch für ein sicheres Grundeinkommen. Und um die gesunde, sichere, respektierte Persönlichkeit, die in Harmonie mit der Natur Freundschaft und Muße pflegt, vom Konsumdruck zu entlasten, plädieren die Autoren auch für eine Einschränkung der Werbung.

Die Zeit für eine solche Veränderung sei mehr als reif, versichern die Autoren im letzten Satz ihres lesenswerten und gut lesbaren Buchs, aber mit dieser Mahnung fühlt man sich am Ende ein wenig allein gelassen. Bildlich gesprochen zeigen sie uns das Raubtier Kapitalismus. Sie erklären, warum auch wir selbst in dessen Käfig stecken. Sie erläutern, welches Unheil es anrichtet und noch anrichten kann. Und dann belehren sie uns, dass wir ohne die Bestie ein besseres Leben führen könnten.

"'In dem Augenblick, in dem wir uns die Freiheit nehmen, das Ergebnis der Gewinnprüfung eines Buchhalters in den Wind zu schlagen', verkündete Keynes 1933, 'fangen wir an, unsere Zivilisation zu verändern.'"

Robert und Edward Skidelsky vermitteln kritische Einsichten in die Ökonomie der Unersättlichkeit, aber statt sich auf konkrete Teillösungen und Lösungsansätze zu beschränken, verlieren sie sich am Ende im Allgemeinen und gut gemeinten.

Ihr Buch liefert jedem Einzelnen gute Anregungen, aber eine allgemein durchsetzbare Lösung, einen archimedischen Punkt, an dem sich der Wachstumswahn aus den Angeln heben ließe, liefern die Skidelskys damit nicht.

Robert & Edward Skidelsky: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens
Verlag Antje Kunstmann, München 2013
280 Seiten, 19,95 Euro