Ökologie

Siedlungszone Plastiktüte

Von Udo Pollmer · 21.12.2013
Die EU fordert ein Verbot von Plastiktüten, weil inzwischen Unmengen an Plastikteilchen die Meere verschmutzen. Doch ein solches Verbot hätte für das Ökosystem nicht nur Vorteile, meint Udo Pollmer.
Forscher der Uni Oldenburg haben im vermeintlich naturreinen Honig ziemlich Künstliches entdeckt: Winzige Kügelchen aus Kunststoff. Die Chemiker wissen sogar schon, wie sie hineingelangt sind. Sie stammen nicht, wie man vielleicht erwarten würde, aus geschredderten Plastiktüten, sondern aus Kosmetika: In Shampoo und Peelingcreme, in Putzmitteln und Zahnpasta ersetzen sogenannte Mikrokugeln das Scheuerpulver. Sie entfernen sanft die Schuppen von der Haut, daher der Peelingeffekt, sie helfen Angebranntes ohne Kratzer aus der Pfanne zu schrubben und Plaque von den Zähnen zu bürsten.
Kosmetika und Putzmittel können bis zu zehn Prozent aus solchen Mikrokügelchen bestehen, die sind meist aus reaktionsträgem Polyethylen gefertigt. So braucht man weniger "aggressive" Chemie. Mit dem Abwasser gelangen die Kügelchen in die Kläranlage und von dort in die Gewässer oder mit dem Klärschlamm auf die Böden. Der Wind verfrachtet das federleichte Material überall hin, beispielsweise auf Blüten. Von dort bringen die Bienen die Kügelchen in ihren Stock, so gelangen sie in den Honig.
Gerade bei Kosmetika handeln viele Hersteller offenbar nach dem Prinzip: "Nach mir die Sintflut" – die Branche interessiert sich herzlich wenig für die ökologischen Folgen ihrer Kreationen. Nun schlagen Meeresschützer Alarm, denn sie konnten diese Hinterlassenschaften der Schönheitspflege bereits im Kot von Fischen und Robben identifizieren. Sie sind also in der Nahrungskette angekommen. Das könnte einigen Lebewesen im Meer schaden: Ruderfußkrebse beispielsweise werden bei bestimmten Partikelgrößen in höherer Dosis unfruchtbar.
Viele Mikroben haben sich auf den Verzehr von Plastik spezialisiert
Während sich allerlei Organisationen der Meerestiere angenommen haben, hat sich offenbar noch niemand Gedanken über den Endverbraucher gemacht. Denn wer Zahnpasta mit Mikroplastik in den Mund nimmt, der schluckt es Tag für Tag – und viel mehr, als wenn er täglich Matjes, Miesmuscheln oder Honig verspeist. Aber wen interessiert das schon, das Leid der unschuldigen Ruderfußkrebse bewegt die Herzen der Menschen.
Neben den Kügelchen stehen die Plastiktüten im Kreuzfeuer der Kritik. Für ein Verbot gibt es die gleichen guten Gründe wie bei den Kügelchen – denn die Meere sind inzwischen voller winziger Plastikteilchen – und die sind noch dazu bekannt dafür, dass sie organische Schadstoffe aus dem Wasser förmlich aufsaugen, was das Risiko steigert. Während die Politik Verbote fordert, arbeitet die Natur gewissenhaft an Lösungen. Inzwischen haben viele Organismen das Plastikmaterial als Behausung und als Nahrungsquelle entdeckt. Ein Verbot würde ihnen vermutlich gar nicht schmecken.
Ein Heer von seltenen Kleinstlebewesen besiedelt dichtgedrängt die Plastikteilchen. Das Plastik bietet ihnen eine neue und ergiebige Siedlungszone – eine Arche für die Allerkleinsten im Meer. Viele der Passagiere haben sich auf den Verzehr von Plastik spezialisiert. Die Mikroben arbeiten in Teams, um die vielen unterschiedlichen, oft komplex zusammengesetzten Plastikteilchen zu zerlegen. Die schmausenden Mikroben wiederum wurden von räuberischen Wimperntierchen als Futterquelle entdeckt, sie weiden den ständig nachwachsenden Bakterienfilm wieder ab.
Um diesem besonderen und artenreichen Ökosystem gerecht zu werden, spricht die Fachwelt von der "Plastisphäre". Ein Verbot zerstört dieses Ökosystem, das womöglich dazu beiträgt, die Meere von Schadstoffen zu säubern. Die Natur ist kein Museum, sondern ein Ort, an dem ständig Weiterentwicklung, an dem Evolution stattfindet. Schadstoffbelastete Plastikteilchen können für den Menschen und viele andere Lebewesen eine Gefahr darstellen – für die Natur als Ganzes sind sie eine Herausforderung, die zahllosen Meeresbewohnern eine neue Chance gibt. Mahlzeit!
Literatur
Dubaish F, Liebezeit G; Suspended microplastics and black carbon particles in the Jade system, southern North Sea. Water, Air and Soil Pollution 2013; 224: e1352
Lee KW et al: Size-dependent effects of micro polystyrene particles in the marine copepod Trigriopus japonicas. Environmental Science & Technology 2013; 47: 11278−11283
Rochman CM et al: Ingested plastic transfers hazardous chemicals to fish and induces hepatic stress. Scientific Reports 2013; 3: e3263
Zettler ER et al: Life in the "plastisphere”: microbial communities on plastic marine debris. Environmental Science & Technology 2013; 47: 7137−7146
Goldstein MC et al: Increased oceanic microplastic debris enhances oviposition in an endemic pelagic insect. Biology Letters 2012; 8: 817-820
Zettler ER et al: 2011 The ‘plastisphere’: a new and expanding habitat for marine protists. Journal of Phycology 2011; 47: S45
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