Odenwaldschule

Vom deutschen Summerhill zum Skandalinternat

Die Odenwaldschule in der hessischen Stadt Heppenheim
Die Odenwaldschule in der hessischen Stadt Heppenheim © Uwe Anspach/dpa
Von Ludger Fittkau · 26.09.2014
Sie galt einst als das "deutsche Summerhill": die Odenwaldschule. Doch das Vorzeigeinternat entpuppte sich als Paradies für Pädophile, mindestens 132 Kinder wurden sexuell missbraucht. Die halbherzigen Versuche der Aufarbeitung scheitern seit Jahren. 2015 könnten die Tore endgültig geschlossen werden.
Ulrich Tukur: "Unsere Erziehung verwirklicht das Prinzip Ganzheitlichkeit. Körper und Geist bilden ebenso eine Einheit wie Leben und Arbeit. Wir lernen in gesunder Umgebung und sind stets Füreinander da. Jedes Kind findet hier immer ein offenes Ohr."
Ulrich Tukur verkörpert meisterhaft Gerold Becker, den charismatischen Leiter der Odenwaldschule. Becker war in den 70er und 80er-Jahren der Haupttäter im Missbrauchsskandal an der Schule mit mindestens 132 Opfern. Den am Originalschauplatz gedrehten Film "Die Auserwählten" mit Tukur und Julia Jensch in den Hauptrollen strahlt die ARD am 1. Oktober aus - anschließend widmen sich Anne Will und ihre Gäste dem Thema.
Sexuelle Übergriffe der Lehrer
Der Fernsehabend wird wohl nicht viel an der Tatsache ändern, dass die Odenwaldschule die Chancen zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle vergangener Jahrzehnte nicht genutzt hat und über kurz oder lang ihre Pforten schließen muss. Das glaubt Pitt von Bebenburg, der hessische Landeskorrespondent der Frankfurter Rundschau. Die Zeitung hatte als erstes Medium darüber berichtet, dass zwischen 1965 und 1998 weit mehr als hundert Kinder und Jugendliche an der Reformschule Opfer von sexuellen Übergriffen durch Lehrer wurden:
"Sie müssen sich vorstellen, wir haben 1999 in der Rundschau über diese Thematik berichtet, über den massenhaften Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Es ist nichts passiert. Wir haben 2010 unter günstigeren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen noch einmal in der Frankfurter Rundschau darüber berichtet. Damals wurde das Thema dann aufgegriffen. Trotzdem gab es zum Beispiel bis 2011 die Regel in der Schule, dass ein Kind, wenn es aus einer Wohngruppe raus geflogen ist, es nicht automatisch eine neue Wohngruppe bekommen hat, sondern in den Speiseraum gehen musste und sich hinstellen musste und sagen. Bitte, bitte, wer nimmt mich auf. Das ist eine Art von Umgang miteinander, der gerade für eine Institution, die hohe emotionale Bindung weckt, nicht geht. Das zeigt so ein bisschen, dass auch in der Phase, wo man dachte, jetzt ist aber eigentlich die Aufklärung in Gang gekommen, noch ganz viel versäumt worden ist."
Emotionale Identifikation mit der Schule
2011 ist aber auch der ehemalige Odenwald-Schüler und Publizist Tilman Jens noch überzeugt: Die Odenwaldschule hat eine Zukunftschance, wenn sie die Missbrauchsskandale schonungslos aufklärt. In seinem im gleichen Jahr erschienenen Buch "Freiwild. Die Odenwaldschule - ein Lehrstück von Opfern und Tätern" wird aber bereits sichtbar, dass sich das Internat mit der Aufarbeitung des Skandals unglaublich schwertut.
Tilman Jens, der die Reformschule in den 1970er-Jahren besucht und sogar noch dort Zivildienst leistet, arbeitet von 2011 bis 2014 im Trägerverein der Einrichtung daran mit, die Aufklärung voranzutreiben:
"Ich habe dort oben - in Ober-Hambach - eine glückliche Zeit verlebt, in einer hochproblematischen, für viele traumatisierenden Zeit. Das wusste ich damals so jedenfalls nicht. Und ich wollte etwas dafür tun, die Schule wieder in ein sicheres Fahrwasser zu bringen. Die Schwierigkeiten waren so groß, dass ich nach diesen drei Jahren sagen muss: Es hat nicht funktioniert."
Pitt von Bebenburg: "Es gibt mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die Odenwaldschule immer eine hohe emotionale Identifikation gestiftet hat. Für Schüler und für Lehrer. Es gab also dieses Phänomen, das jeder, der etwas Böses über die Schule berichtet hat, als Nestbeschmutzer gegolten hat. (...) Und das ist das Grundproblem an dieser Schule, an dem hat sich nichts geändert. Dazu mag auch beitragen, dass bis heute immer noch Leute an der Schule tätig sind, die auch schon zu den massiven Missbrauchszeiten dort gearbeitet haben. Und die natürlich alle Schuld auf sich geladen haben, weil alle wussten, dass an dieser Schule etwas nicht stimmt. Und wir sind nicht dagegen vorgegangen. Aber ich glaube der Hauptpunkt ist sicher dieses engste Kameradschaftsgefühl."
Ganz grobe Aufklärung
Sagt Pitt von Bebenburg von der Frankfurter Rundschau. Im ARD-Film "Die Auserwählten" wird der Korpsgeist der Schule in mehreren Szenen deutlich, als sich die fiktive junge Lehrerin Petra - gespielt von Julia Jensch - Anfang der 80er-Jahre bemüht, die Missbrauchsfälle, die sie beobachtet, aufzuklären. Ihre Lehrerkollegen lassen sie auflaufen:
Lehrerin Petra: "Ich habe da was gesehen, im Wald, beim fotografieren. Da war der Bus vom Manni, er war mit einem Schüler da. Beide waren nackt.
Ältere Kollegin: "Nacktheit, Petra, hat bei uns nicht unbedingt etwas mit Sexualität zu tun."
Jüngere Kollegin: "Unterstellst Du dem Manni da irgendwas, nur weil er schwul ist."
Petra: "Aber darum geht es mir doch gar nicht. Der Junge im Bus war - jung."
Dass der Film an der Odenwaldschule selbst gedreht werden konnte, weist auf die Bereitschaft der heutigen Leitung hin, sich der Missbrauchsgeschichte zu stellen. Dennoch sei nach 2010 der Blick der Schule wohl aus Angst um die Existenz der Einrichtung zu schnell wieder nach vorne gerichtet worden, glaubt der Altschüler und Publizist Tilman Jens. Damit ist man den Opfern nicht gerecht geworden:
"Die Aufklärung ist mit ganz grobem Geschirr erledigt worden. Man wollte da durch und dann sagen: Jetzt sind wir vollkommen anders. Und das hat nicht funktioniert."
Sowohl Tilman Jens als auch Pitt von Bebenburg bedauern es, dass die Odenwaldschule ihre Chancen zu rückhaltloser Aufklärung der Missbrauchsfälle in den vergangenen Jahren nicht genutzt hat. So wurde der Haupttäter - der ehemalige Schulleiter Gerold Becker - nicht befragt:
Tilman Jens: "2010 waren ja noch Leute da, die ein wenig davon wussten zumindest. Gerold Becker lebte noch. Man hätte natürlich das nutzen müssen. Becker war ein schwerkranker Mann, warum ist niemand zu ihm hingefahren? Er hat gesagt, ich bin gesprächsbereit. (...) Es bleibt dadurch auch viel im Dunkeln."
Hat die Schule noch eine Perspektive?
Die Konsequenz: Das Vertrauen in die Reformschule auf den Höhen über dem Rheintal ist auch nach Jahren nicht wiederhergestellt worden, die Schüler bleiben weg, die behördliche Betriebsgenehmigung gilt nur noch befristet. Wenn die Finanzierung bis Mitte 2015 nicht längerfristig gesichert wird, droht die Schließung der Schule. Das sagt Grünen-Politiker Matthias Schimpf, der stellvertretende Landrat des südhessischen Kreises Bergstraße, der für die Betriebsgenehmigung zuständig ist. Das Jugendamt des Kreises schickt seit Jahren keine Schüler mehr auf die Odenwaldschule, weil aus Sicht der Behörde die nötige Transparenz bei der Aufarbeitung fehlt.
Matthias Schimpf: "Ich lege Wert darauf, dass der Kreis Bergstraße nicht die Schließung der Schule fordert, wir fordern eine neue Struktur. Und wir fordern vor allem Transparenz gegenüber der Aufsichtsbehörde."
Ein neuer runder Tisch, an dem neben Opfervertretern auch der Grüne Matthias Schimpf teilnehmen wird, soll jetzt noch einmal ausloten, ob die Schule noch eine Perspektive hat und ob sich neue, unbelastete Mitarbeiter finden lassen. Pitt von Bebenburg, der Hessen-Korrespondent der Frankfurter Rundschau bedauert es, dass die Odenwaldschule aus seiner Sicht zu spät auf Transparenz setzt:
"Weil vieles an dem Konzept, das sie betreibt, zum Beispiel die Parallele von schulischer Ausbildung und einer sehr guten handwerklichen Ausbildung, das intensive Mitbestimmen von Schülern, die Einbeziehung der Eltern - es gibt vieles, was wirklich sinnvoll ist und was an dieser Schule ausprobiert ist. Ich schätze es aber so ein, dass es für die Schule sehr, sehr schwer ist. Ich würde jedenfalls in dieser Situation Kinder an dieser Schule nicht anmelden."
Tilman Jens: "Ich fürchte, man muss da sagen: das ist leider gescheitert. Gründet eine Schule mit ähnlichem Konzept an einem anderen Ort. Ich denke, dass würde viel, viel Zulauf finden. Viele Kinder, viele Eltern würden dann wieder sagen: Okay, wir vertrauen diesem Konzept."
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