Odenwaldschule

"Man kann den Leuten nicht ins Hirn gucken"

Weiter massiv in der Kritik: die Odenwaldschule (OSO) in Ober-Hambach bei Heppenheim
Weiter massiv in der Kritik: die Odenwaldschule (OSO) in Ober-Hambach bei Heppenheim © picture alliance / dpa / pdh-online.de
Moderation: Stephan Karkowsky · 25.04.2014
Als Konsequenz aus dem jüngsten Skandal um die Odenwaldschule fordert der Autor Tilman Jens eine Zusammenführung des Opferverbands Glasbrechen mit dem Trägerverein der Schule: "Das ist die einzige Chance, denn sonst wird die Schule an die Wand gefahren."
Stephan Karkowsky: Krisensitzung in Heppenheim. Bis heute Mittag sollte die Leitung der hessischen Odenwaldschule gegenüber dem Jugendamt des Landkreises Stellung nehmen zu neuen Vorwürfen. Da ging es gar nicht mehr um die Frage, hat ein Lehrer Kinderpornos besessen, das soll der nämlich inzwischen zugegeben haben, der Vorwurf lautet viel mehr: Dieser Lehrer war schon früher auffällig, Schüler haben irgendwas bemerkt, die Schule hat das gewusst und vertuscht.
Was dann wiederum erneut Rufe nach einer zwangsweisen Schließung der Schule ausgelöst hatte. Das aber könnte nur das hessische Kultusministerium anordnen. Über die neuen Querelen an seiner alten Schule wollen wir mit dem Journalisten Tilman Jens sprechen. Er ist Mitglied des Trägervereins der privaten Odenwaldschule und er ist Autor eines Buches über seine eigene Zeit an diesem Internat. Herr Jens, guten Tag!
Tilman Jens: Guten Tag!
Karkowsky: Wie bewerten Sie die neuen Vorwürfe gegen Ihre alte Schule?
Jens: Die sind schlimm, da ist vieles dran. Ich würde nicht von einer bewussten Vertuschung sprechen, aber von einem grob dilettantischen Umgang mit den Vorkommnissen. Also, da ist ein Lehrer, der fällt auf, man versucht, das intern zu regeln, man sagt nicht, also, bis sich diese Vorwürfe der Schüler geklärt haben, versetzen wir den mal nach außen, der soll Unterricht geben, aber vielleicht in der Zeit nicht, und bis das geklärt ist nicht unbedingt an der Schule mit Schülern quasi zusammen wohnen in einer sogenannten Familie.
	Journalist und Autor: Tilman Jens
Journalist und Autor: Tilman Jens© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Dann rückt die Polizei an, hat einen Durchsuchungsbefehl, die Schule ist dabei, Polizisten, Zivilbeamte. Und wieder, das wäre der allerletzte Punkt gewesen, wieder wird das nicht nach außen kommuniziert. Also, man hofft irgendwie, dass das nicht nach außen käme. Nach einer Woche, gut einer Woche wird im "Bergsträßer Anzeiger" es publik. Also, man gibt die Souveränität vollkommen preis, und das finde ich furchtbar.
"Das müssen Opfer als Verhöhnung begreifen"
Karkowsky: Rechtlich Relevantes scheinen Polizei und Staatsanwaltschaft bislang nicht gefunden zu haben, mit Ausnahme natürlich des Kinderpornovorwurfs. Der Schulleiter Siegfried Däschler-Seiler sagt im Hessischen Rundfunk, das Präventionskonzept der Schule habe funktioniert. Denn auf die Frage des Jugendamtes – "Haben Sie diesen Fall verschleiern wollen?" – hat er gesagt, das sind unhaltbare Vorwürfe, er kann das nachweisen anhand der schulinternen Unterlagen. Sie hätten sich in jedem Schritt an das aktuelle Präventionskonzept der Schule gehalten und die zuständigen Stellen informiert. Und weiter sagte er:
Siegfried Däschler-Seiler: "Das war ja der entscheidende Punkt, dass keine belastbaren Ergebnisse, die man negativ hätte bewerten müssen, herauskamen, sondern es war am Ende so, dass ein Unbehagen da war, wir das aufgegriffen haben und aber keine, wie soll ich sagen, nachhaltigen Erkenntnisse, die wir als Belastung hätten verstehen müssen, herausgekommen sind. Und deshalb ist auch nichts erfolgt."
Karkowsky: Würden Sie sagen, Herr Jens, an allen Schulen, wo Lehrer komisch gucken und Schülern fällt das auf, sollte man die sofort suspendieren oder nur speziell hier an der Odenwaldschule?
Jens: Ich rede nicht von Suspendierung. Ich finde, dass die Unschuldsvermutung ein ganz, ganz hohes Gut ist selbstverständlich. Nur, man muss aufpassen, um die Gefährdung ... Man weiß, dass diese Schule in einer extremen Situation ist, in die sie sich selber hineingebracht hat, insofern, äußerste Vorsicht ist geboten. Nicht rauswerfen, sondern möglicherweise sagen, pass mal auf, das müssen wir näher untersuchen, solange nach Möglichkeit, oder solange nicht an der Schule ... Aber das ist nicht der eigentliche Punkt.
Der eigentliche Punkt ist auch nicht, wann, zu welcher Stunde es einer Behörde mitgeteilt wurde. Der zentrale Punkt ist, dass man wieder einmal einen ganz offenkundigen Skandal, nämlich dass die Staatsanwaltschaft anrücken muss vermutlich, der Lehrer hat ja zugegeben, dass er dieses Material bezogen hat, dass wieder einmal Zeit ins Land gestrichen ist. Das müssen gerade die Opfer als Verhöhnung und als Wiederholung ihrer eigenen Geschichte begreifen.
"Jetzt steht die Schule wieder ganz schrecklich da"
Karkowsky: Das sagt ja auch einer der größten Ankläger der Schule, der stellvertretende Landrat des Kreises Bergstraße, der ehemalige CDU- und heutige Grünen-Politiker Matthias Schimpf. Der Landkreis hat die Aufsicht über das Schulheim und Schimpf nennt die Verteidigung des Schulleiters hart an der Grenze zur Unverschämtheit!
Matthias Schimpf: "Die Odenwaldschule hat aus ihrer Geschichte heraus die Verpflichtung zur Transparenz. Das war auch ein gegebenes Versprechen der Öffentlichkeit gegenüber. Dieses Gebot der Transparenz und dieses Versprechen hält die Odenwaldschule nicht ein, und man kann nur sagen: Bei einem solchen Verhalten, bei einem solchen Gebaren taumelt die Odenwaldschule dem Abgrund entgegen."
Karkowsky: Da teilen Sie also die gleiche Ansicht. Gleichzeitig sagt Schimpf, die Schule hätte mit den Vorwürfen sofort an die Öffentlichkeit gehen müssen, und dem entgegnet der Schulleiter, das hätte er nicht tun können, die Vorwürfe waren zu diffus, es hätte sich dann um eine Verleumdung des beschuldigten Lehrers gehandelt. Ist auch das ein Stück weit wahr?
Jens: Das glaube ich nicht. Also beziehungsweise es hätte zwei Möglichkeiten gegeben. Natürlich ist die Situation schwierig, aber entweder hätte die Schule sagen müssen, wir stehen zu dem Lehrer, wir sagen, bis zur Klärung bleibst du selbstverständlich Mitarbeiter, aber du wirst für eine gewisse Zeit freigestellt, bis sich die Sache verifiziert oder falsifiziert hat, dann hätte man aber genau dieses eben sofort kommunizieren müssen.
Denn es ist aberwitzig zu glauben, dass sich dieses in dieser sehr gut vernetzten südhessischen Community nicht augenblicklich, das heißt binnen Tagen zur Presse rumspricht. Und jetzt steht die Schule wieder ganz, ganz schrecklich da.
"Man kann den Leuten nicht ins Hirn gucken"
Karkowsky: Sie hören den ehemaligen Odenwaldschüler, den Journalisten und Buchautor Tilman Jens zu neuen Vorwürfen gegen die hessische Reformschule. Herr Jens, zu den Kritikern der Schule zählt auch der Darmstädter Künstler Gerhard Roese. Der sagte am Dienstag, diese Schule zieht Päderasten magisch an. Sehen Sie das genauso?
Jens: Nein. Magisch an, also ... Ich halte Herrn Roese auch für einen windigen Zeugen in dieser Causa. Nur, es ist klar, dass keine Schule gefeit sein kann, dass sich irgendjemand da auch mit solchen Neigungen, da gebe ich dem Schulleiter recht, man kann den Leuten nicht ins Hirn gucken, sich da ja einschleicht, da irgendwelche Wege der Befriedigung sucht. Damit muss jedes Internat leben, auch die Odenwaldschule. Nur, sie müsste souverän damit umgehen, und das kann sie nicht mehr, weil sie mit dem Rücken zur Wand steht.
Karkowsky: Der Bildungsredakteur der Zeit Thomas Kerstan hat unlängst die Schließung der Schule gefordert. Er sagt – ich zitiere jetzt nicht genau, sondern ungefähr –, die soziale Architektur der Reformschule sei zu anfällig für Übergriffe, weil noch immer Lehrer und Schüler unter einem Dach wohnten und Lehrer sogar die Rolle des Familienhauptes ihrer Schülergruppen bekämen. Hat dieses Modell ausgedient?
Jens: Das ist eine sehr schwierige Frage. Also, ich zu meiner Zeit habe das als sehr positiv empfunden. Ich weiß, dass das viele Schüler von heute als ungemein positiv empfinden. Aber dass es ein Risiko birgt, wenn sozusagen es keine Trennung zwischen Wohnbereich, also Leben nach der Schule und dem Unterricht gibt, das ist so ... Also, es ist eine problematische Situation, eine problematische Verpflichtung. Darüber wird dringlich nachzudenken sein.
"Schweigen ist eben das Schlimmste"
Karkowsky: Adrian Koerfer ist Sprecher der Opferinitiative "Glas brechen", er wird im Berliner "Tagesspiegel" zitiert mit den Worten: Wenn ein Lehrer einen anderen bei einem Übergriff sieht, dann würde der doch nie an die Öffentlichkeit gehen, damit wäre doch die Existenz der Schule und damit auch die eigene gefährdet. Was glauben Sie, herrscht an der Odenwaldschulde wirklich das Prinzip, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus?
Jens: Nein, dieses Prinzip herrscht gewiss nicht. So sehr ich Adrian Koerfers Verbitterung und auch Empörung in diesen Tagen sehr, sehr gut nachvollziehen kann, ich glaube, dieses Prinzip herrscht nicht.
Ein anderes Prinzip aber herrscht, das heißt Angst essen Seele auf. Das heißt, aus Angst, dass irgendetwas publik wird, das zeigt dieser konkrete Fall, hat man eben jede Souveränität über diesen Fall verloren. Man hat sich an den Rand drücken lassen, man hat geschwiegen. Und Schweigen ist eben das Schlimmste, was diese Schule zu diesem Zeitpunkt mit der Geschichte tun kann.
Karkowsky: Sie reden ja recht offen in Ihrem Buch "Freiwild" über die eigene Schulzeit an der Odenwaldschule und argumentieren da differenziert, zum einen aus der Sicht des glücklichen Ex-Schülers, befangen, das geben Sie zu, der nun als Erwachsener Dinge durchaus anders sieht. Die Odenwaldschule steht aber doch nicht mehr als Symbol für einen Aufbruch in der Bildungskultur, sie steht heute symbolisch für Kindesmissbrauch. Und jeder noch so vage Verdacht – Sie haben es gesagt – wird wieder zu diesem Bild führen, Sie haben das Wort gewählt, des abgrundgeilen Freudenhauses und Knabenpuffs mit Zwangsarbeit. Glauben Sie, das lässt sich jemals wieder ändern?
"Es muss einen anderen Weg geben als die Schließung"
Jens: Das wird sehr, sehr schwierig, ich hatte es gehofft, dass das besser funktionieren würde. Da die Aussöhnung mit den Opfern, auch mit dem Opferverband "Glas brechen", die eine sehr verdienstvolle Arbeit leisten, das muss ich zugeben, ich habe da früher auch mal anders gedacht, aber das ist schon große Klasse ... Was macht die Odenwaldschule, sie setzt letztlich eine Ein-Mann-Organisation namens "Pro Uso" in die Welt, die sagt, wir sind die eigentlichen Opfervertreter.
Das ist absurd und das zeigt, dass man mit der Wahrnehmung der Realität an dieser Schule im Moment große Schwierigkeiten hat.
Karkowsky: Und wenn nun der neue hessische Kultusminister Ralf-Alexander Lorz von der CDU, wenn der Handlungsbedarf sieht und sagt, wir müssen da was tun, würden Sie sich vor die Schule stellen und ihm gegenüber begründen, nein, diese Schule darf nicht geschlossen werden?
Jens: Das ist im Moment, hoffe ich, noch eine hypothetische Frage. Ich bleibe dabei, dass es einen anderen Weg geben muss als die Schließung.
Karkowsky: Nämlich, was tun?
Jens: Ich denke ganz konkret zum Beispiel, der allererste Schritt wäre – und das ist meine zentrale Forderung –, wir müssten dem Verein "Glas brechen" und dem Trägerverein, der im Moment die Geschäfte der Schule ja kontrolliert mehr schlecht als recht, wir müssten diese beiden Vereine zusammenführen. Also, das heißt, "Glas brechen", die Institution, die mit viel auch wissenschaftlicher Beratung hier die Aufklärung der Vergangenheit betreibt, und die aktuelle Organisation, die die Schule zu organisieren hat, die müssen nicht nur zusammenarbeiten, sondern sie müssen, so schmerzhaft das für beide Seiten sein mag, aber sie müssen zusammengeführt werden.
Das ist die einzige Chance, denn sonst wird die Schule an die Wand gefahren. Und dann ist wirklich die Schließung da.
Karkowsky: Zu den neuen Vorwürfen gegen die Odenwaldschule, die Pädophilie eines Lehrers vertuscht zu haben, hörten Sie den Journalisten und Ex-Odenwaldschüler Tilman Jens. Er ist Autor des Buches "Freiwild" über seine eigenen Erlebnisse an dieser Schule. Herr Jens, danke für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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